"Wir Älteren sind die Chance dieser Republik"

Moderation: Vladimir Balzer · 25.09.2006
Der frühere Bremer Bürgermeister Henning Scherf hat dafür geworben, dem älteren Teil der Bevölkerung in Deutschland mehr Beachtung zu schenken. Heute böte sich der Gesellschaft mit einer finanziell unabhängigen, zeitlich flexiblen und leistungsfähigen Rentnergeneration eine nie da gewesene Chance, sagte der 67 Jahre alte SPD-Politiker im Deutschlandradio Kultur.
Vladimir Balzer: Es hat sich nun inzwischen rumgesprochen: Die Deutschen werden älter. Nicht nur dass es immer mehr Ältere gibt, sie leben auch länger. Das Alte ist wieder ein großes Thema hierzulande. Einer, der zur Diskussion beiträgt, hat ein bewegtes politisches Leben hinter sich. Er war Kaffeepflücker in Nicaragua, Friedensdemonstrant, 30 Jahre in der aktiven Politik, zehn Jahre davon in einer deutschen Hansestadt Bürgermeister zum Anfassen, wie es hieß, eingefleischter Protestant, SPD-Mitglied, passionierter Fahrradfahrer und seit einem Jahr Pensionär. Henning Scherf, herzlich willkommen bei uns!

Anlass unseres Gesprächs ist ja Ihr Buch, das soeben erschienen ist, "Grau ist bunt - was im Alter möglich ist". Vor einem Jahr haben Sie sich aus der Politik zurückgezogen, sie waren zehn Jahre Bremer Bürgermeister, 30 Jahre in der Bremer Politik. Sie waren einer der beliebtesten Politiker Deutschlands, was die Umfragen angeht. Haben Sie jetzt als Pensionär eigentlich erst die Zeit gefunden, dieses Buch zu schreiben?

Henning Scherf: Also der Verlag wollte das vorher schon mit mir anfangen, die haben mir das richtig aufgedrängt, und es war nicht ganz einfach, während meiner aktiven Senatszeit ein Buch zu schreiben. Ich habe praktisch nur Gespräche geführt, und dann ist dieses Ausscheiden dazugekommen, und seitdem gibt es eine neue Begründung für so ein Buch, und das habe ich dann auch angenommen und aufgenommen, und seitdem ist da richtig Tempo reingekommen. Und nun ist es auf dem Markt.

Balzer: Haben Sie jetzt einfach mehr Zeit oder auch tatsächlich mehr Lust, über dieses Thema zu schreiben?

Scherf: Ich bin so einer, der richtig unter Strom sein muss, also ich muss viel um die Ohren haben, wenn ich mich wohl fühle.

Balzer: Also Pensionär war eine falsche Bezeichnung?

Scherf: Ja, darum habe ich im Augenblick fast so wenig Zeit wie vorher, aber das will ich. Nein, es ist anders geworden. Ich habe die Politik im Wesentlichen hinter mir gelassen. Und ich habe jetzt plötzlich Themen, die sehr viel lebensnäher sind und die was mit meinen Freunden, mit denen ich zusammenwohne seit 18 Jahren, zu tun haben, und die was mit meinem persönlichen Wohlbefinden zu tun haben. Das geht in dem Politikbetrieb immer zurück, da redet man nicht so gerne über seine Befindlichkeiten, sondern da muss man Auskunft geben und muss argumentieren können. Jetzt habe ich Zeit und nutze sie, auch über meine Befindlichkeiten zu reflektieren.

Balzer: Also gilt dann jetzt der Satz, hier bin ich Mensch, hier darf ich sein, jetzt nach der Politik?

Scherf: Ja, Mehr als vorher. Sie müssen sich den Politikbetrieb wirklich als eine große Tretmühle vorstellen. Man tritt und tritt und tritt von morgens bis abends, wird von vielen anderen ferngesteuert, und muss präsent sein, fit sein, muss die Daten wissen, muss Auskunft geben können, und fällt dann abends erschöpft ins Bett und sagt: Wow, war das wieder ein Stresstag. Heute ist das ein Stück anders. Heute habe ich kein Büro, ich mache meine Termine selber, manchmal gehe ich dann zu Fuß, und das ist auch gut so, dann habe ich Zeit zum Nachdenken.

Ich mache auch mehr Musisches, ich habe das Orgelspielen angefangen, ich habe das Aquarellmalen in einer Malklasse angefangen, das Kochen angefangen, und ich habe eine englische Debattierrunde mitgegründet. Wir treffen uns zweimal die Woche und debattieren in Englisch mit einer Engländerin, die uns korrigiert, zeitgenössische Themen. Das sind alles wunderbare Erfahrungen, ich habe auch mehr Zeit für mein Haus, für meine Wohngemeinschaft, und das ist das Neue.

Balzer: Henning Scherf, Sie sind 67 Jahre alt, ich habe es gesagt, Sie waren 30 Jahre in der Politik, und wie Sie die Politik geschildert haben, als Tretmühle, als etwas sehr Anstrengendes, als etwas, wo man sich auch jeden Tag aufreiben kann. Jetzt, wo Sie über Ihr Alter reden, über Ihr, na ja, nennen wir es doch mal Pensionsdasein, wirken Sie immer noch, oder fast noch vitaler. Kann das sein, sind Sie jetzt vitaler, lebendiger, stärker als vorher?

Scherf: Ja, das stimmt. Ein Freund, dem es so ähnlich geht wie mir, hat das so beschrieben: Man läuft in so einer Tretmühle auf einem Zylinder wie so ein Hochleistungsapparat, und der dampft und dampft, und plötzlich haben wir zwei, drei weitere Zylinder, die eigentlich immer unteraktiv waren, jetzt wiederentdeckt, oder aktiv gemacht, nämlich die kreativen und die kommunikativen. Ich habe das Gefühl, ich fahre im Augenblick auf vier Zylindern, während ich früher einen Zylinder hatte, und das geht besser, viel besser. Das geht sogar im Sport besser, also ich mache ja auch mit meinem Rennrad richtig sportliche Großveranstaltungen mit und halte da fröhlich mit 30-Jährigen. Also wir beide könnten uns auf ein Rennfahrerereignis einlassen, und ich würde meinen, ich bringe Sie in Verlegenheit.

Balzer: Ich glaube, ich würde zurückliegen, Herr Scherf, wenn ich Sie so sehe. Der Untertitel Ihres Buches ist ja "was im Alter möglich ist", "Grau ist bunt - was im Alter möglich ist". Heißt das, ein gutes Altern ist für Sie ein aktives Altern?

Scherf: Ja. Ich glaube, wir haben eine Chance, wie sie für unsere Eltern und Großeltern und viele, viele Generationen davor, nie auch nur ansatzweise vergleichbar da war. Dass wir nämlich im Schnitt 30 Jahre Leben vor uns noch haben, diese 30 Jahre Leben in wunderbaren Bedingungen, weil wir nämlich eine Rente haben, die uns ernährt, weil wir plötzlich Zeit haben, weil wir noch fit sind, weil wir uns noch interessieren können, einmischen können, weil wir uns noch beteiligen können, ohne immer zu fragen: Kriege ich da auch das richtige Gehalt dafür?

Wir sind wirklich die klassische ehrenamtliche Basis dieser Gesellschaft, und diese Chance, ich finde, die muss man ausbreiten, die muss man seinen Gleichaltrigen und auch Älteren sagen, und sagen, wir sind nicht das Problem dieser Republik, sondern wir sind die Chance dieser Republik, mit uns kann man eine Zivilgesellschaft entwickeln, die sich viele erträumen, die aber im Alltagskampf um ihr täglich Brot gar keine Zeit dafür haben. Wir haben die Zeit, und wir bieten uns dafür an.

Balzer: Henning Scherf, Sie haben es schon erwähnt, Sie wohnen in einer Wohngemeinschaft. Also ich glaube, das ist wahrscheinlich die berühmteste Wohngemeinschaft Deutschlands, nämlich eine, ich nenne es mal, Alters-WG, ältere Damen und Herren, acht, glaube ich, insgesamt an der Zahl?

Scherf: Ja, wir waren bei zehn, mit zehn haben wir das gegründet vor fast 20 Jahren, mitten in der Stadt.

Balzer: Wie ist eigentlich dieses Zusammenleben? Ich meine, warum leben Sie zum Beispiel nur mit Älteren, habe ich mich gefragt, warum leben Sie nicht zum Beispiel, weil Sie jetzt gerade in Ihrem Buch auch sagen, Sie treten für eine partnerschaftliche Altersrolle zwischen den Generationen, warum wohnen Sie nicht in einem Mehrgenerationenhaus? Es gab ja mal ein Vorbild, die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt, die vor ein paar Jahren verstorben ist, ich glaube, die wohnte in einem Mehrgenerationenhaus.

Scherf: Auch sie war bei uns zu Hause, und wir waren sehr befreundet miteinander. Also unser Anspruch ist auch, ein Mehrgenerationenhaushalt und ein Mehrgenerationenhaus zu sein. Nun haben wir erlebt, dass alle unsere klugen, großen Kinder erwachsen geworden sind, und alle ausgeflogen sind. Keiner von denen ist in Bremen geblieben, die sind über die ganze Welt verstreut. Das war eine richtige Entwicklung aus deren Sicht, und wir müssen jetzt einen neuen Anlauf machen.

Wir haben im Augenblick eine 29-jährige Psychologin, die bei uns wohnt, übrigens aus Oranienburg, die lernt bei uns den Westen und all so was kennen, und wir lernen über sie auch ganz viel. Wir haben eine 11-Jährige, eine Nachgeborene, die auch mit uns zusammenlebt, also ein bisschen generationenübergreifend haben wir. Wir hätten das gerne weiter ausgebaut, wir suchen und kümmern uns, und wir sind auch nicht resigniert, was das angeht, aber es ist doch etwas anderes, wenn man nicht die eigenen Kinder mehr zu Hause hat, sondern wenn man ganz plötzlich über ganz Fremde geht, die sich einlassen sollen auf so ein Projekt. Das geht, aber es ist nicht gleichermaßen selbstverständlich wie mit den eigenen Kindern.

Balzer: Sie haben mal gesagt, dass Ihr Buch "Grau ist bunt - was im Alter möglich ist", das jetzt erschienen ist, auch eine Art Gegenthese zu, ja, dem großen Bestseller schaffen wollten, nämlich Frank Schirrmachers Methusalem-Komplott, wo er ja gewarnt hat vor einem gewissen Altersrassismus, und dass sich eben Europa und die Welt auf eine alternde Gesellschaft einstellen muss, dass man damit einfach auch irgendwie umgehen muss. Inwieweit ist das eine Gegenthese? Es scheint ja eher nur eine Weiterentwicklung zu sein, oder?

Scherf: Nee, nee. Also wenn Sie das Schirrmacher-Buch gelesen haben, dann wissen Sie, dass das ein Pamphlet ist. Der hetzt die Generationen gegeneinander auf, der will Clash of Generations organisieren und will den Jungen zeigen: Wir sind jetzt die Mehrheit, und wenn ihr nicht so spurt, wie wir wollen, dann zeigen wir euch mal, wer hier Wahlen gewinnt und wer hier die Mehrheit hat in Parlamenten und wer Regierungen jagen kann. Das genaue Gegenteil ist meine Lebenserfahrung. Ich kenne nur Leute, die sich freuen auf generationsübergreifende Arbeit und Altersarbeit, die sich freuen auf die Enkelkindergeneration, selbst wenn sie gar keine eigenen Kinder und Enkelkinder haben, freuen die sich auf die, die andere haben, und sind lustvoll bereit, mit anzupacken, mitzutun, ihre Lebenserfahrung weiterzugeben. Wunderbare Erfahrung, und die Kinder genießen das mit Großeltern, mit Großmüttern, wunderbare Perspektive, das ist das, was wir brauchen, nicht Clash of Generations.

Balzer: Eine abschließende Frage noch: Zum Alter gehört ja auch, auch wenn das sicherlich kein schöner Gedanke ist, das Sterben, und letztens tagte ja der Deutsche Juristentag und hat sich dafür ausgesprochen, dass es eine passive Sterbehilfe in Deutschland geben sollte, dass es die Möglichkeit geben sollte, nach einer Patientenverfügen, dass jemand sagen kann, ich möchte sterben. Wie halten Sie es eigentlich als Protestant, als Christ, mit diesem Vorschlag?

Scherf: Wir haben darüber richtig gemeinsam offen geredet in unserem Haus, das ist auch in dem Buch zitiert, das letzte Kapitel geht ums Sterben. Wir haben sehr unterschiedliche Meinungen dazu. Es gibt einige von uns, die haben sich inzwischen angeschlossen an solche Patientenverfügungsinitiativen und wollen das, wollen sich auch gegenseitig helfen dabei, was der Juristentag nicht für möglich hält rechtlich, aber das beraten unsere Leute. Ich bin ein bisschen anders gestrickt. Ich halte es mit Bloch, mit Ernst Bloch, ich finde, es ist ganz spannend, das Sterben, das will ich wissen, ich will alles wissen, was mit mir passiert, ich will alles wissen, was ich bis dahin noch an Erfahrungen mache, ich möchte das bitte, bitte begleitet von Freunden können dürfen.

Aber ich will niemanden da reinfunken lassen, ich will auch nicht weglaufen vor den Ängsten, ich will auch nicht weglaufen vor den Schmerzen und vor den Behinderungen, die ich ja kenne, weil ich mit vielen, vielen auch behinderten, auch schwer pflegebedürftige Menschen befreundet bin. Aber ich möchte das wissen, ich möchte das in mein Leben integrieren. Ich finde, das Denken und das Reden darüber gibt meinem Leben eine zusätzliche Tiefenschärfe. Ich habe das Gefühl, dadurch kriege ich eigentlich erst richtig eine Sensibilität auf die Chancen, die ich jetzt habe, dadurch, dass ich mir immer wieder klar werde darüber: Auch für dich hört das mal auf, auch du bist irgendwann mal am Ende, auch du bist irgendwann mal unter der Erde.