Willkommen im lyrischen Sprachlabor

Von Oliver Kranz · 31.07.2013
In ihrem Wikipedia-Eintrag wird Mara Genschel als Schriftstellerin bezeichnet. Doch das führt in die Irre. Sie ist eher eine Klangkünstlerin - eine Dichterin, die Worte, Silben und Geräusche in einer Weise zusammenfügt, dass sich neue Sinnzusammenhänge ergeben. Die Tonebene ist dabei meist ebenso wichtig wie der Text.
Man setzt sich auf einen Stuhl, der von Lautsprechern umgeben ist, schließt die Augen - und dann das:

Frau 1: "Wir haben hier unsere beiden Profis ähm …"

Frau 2: "… ganz unterschiedliche Bereiche ähm … Das sieht man schön an den Bewertungen …"

Frau 1: "Ja …"


Man bekommt keine harmonischen Klänge zu hören, sondern ein dahingestammeltes Verkaufsgespräch.

Mara Genschel: "Wenn Sie diese QVC-Sendungen kennen, daran ist das orientiert. Unter einem extremen Zeitdruck müssen da Dinge gepriesen werden. Das kippt natürlich total ins Groteske. Das ist ja von sich aus schon nicht mehr schön."

Schon klar, aber was ist daran eine Massage? Mara Genschel holt tief Luft. Sie ist groß, hat langes blondes Haar und einen festen Blick …

Gefühl und Assoziation
Genschel: "Ich finde das ganz wichtig, dass Sprache nicht instrumentalisiert wird für ein Wohlbefinden. … Und dieser Massagebegriff, ´Klangmassage` als Wort, bringt schon das Problem in die Sache …"

Das gute Gefühl, das mit dem Begriff assoziiert wird, will Mara Genschel nämlich verhindern. Daher die Stammelei. Wer genau hinhört, kann im Verkaufsgespräch die Künstlerin erkennen …

Frau 1: "Das finde ich richtig irre. Also das muss ich mir wirklich merken …"

Genschel: "Das bin schon ich. Ich übernehme ja keine Rolle. Ich bin Mara Genschel, ich bin Mara Genschel, ich bin Mara Genschel und ich bin die Anruferin Mara Genschel. … Ich mache die Massage, indem ich sie bewerbe, weil jede sprachliche Massage ist meiner Meinung nach eine Werbung."

Willkommen in Mara Genschels Sprachlabor! Die Künstlerin liebt es, Aussagen umzudrehen und Sinnzusammenhänge zu hinterfragen. Manchmal nutzt sie Worte allein wegen ihres Klangs. Was sie bedeuten ist Nebensache.

Genschel: "Weil ich Worte als Objekte begreife, mit denen man was machen kann, d.h. … man kann wirklich kucken, was da noch an Assoziationen und an Möglichkeiten an dieses Wort geknüpft werden können."

Annähern an musikalische Vorstellungen
Mara Genschel wurde 1982 in Bonn geboren und wollte ursprünglich Musikerin werden. Sie studierte Musik und Musikwissenschaft, bis sie eine Entdeckung machte:

Genschel: "Mit dem Schreiben komme ich viel näher an meine musikalischen Vorstellungen heran als mit der Musik."

Mara Genschel bewarb sich um ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und wurde angenommen.

Genschel: "Leipzig war Kämpfen und sich ein Gebiet erschließen … Für mich ist sehr wichtig fürs Schreiben die Werkstatt, der geschlossene Raum, der Experimentierraum, mein Gebiet, meine Fläche, das ist das, was ich brauche, um zu arbeiten und was ich mir erarbeitet habe."

Am Anfang war Schreiben für Mara Genschel ein Weg, anderen ihre Gefühle mitzuteilen. Sie schrieb zum Beispiel Liebesgedichte. Doch bald schon merkte sie, dass die Form der Texte ihr wichtiger war als der Inhalt. Sie begann sich für Lautpoesie zu interessieren. Mit Valeri Scherstjanoj, der in Leipzig Dozent war, untersuchte sie Glossolalien.

Genschel: "Glossolalie heißt Zungenrede und das ist so ein ekstatisch-verbaler Zustand, wo Leute, die vom Geist besessen sind, plötzlich anfangen, vermeintlich unverständlich zu reden und lautpoetische Qualitäten entwickeln. ... Da gab es dann Niederschriften, und da haben wir uns dann überlegt, wie könnte es klingen."

Gedichte lesen und Papier zerreißen
Mara Genschel versuchte, mit der Geige die Glossolalien nachzuahmen. Seitdem spielen Musik und Geräusche in ihrer Arbeit eine wichtige Rolle. Wenn Mara Genschel Gedichte vorliest, kann es vorkommen, dass sie gleichzeitig Papier zerreißt …

Genschel: "Das ist wirklich ein Lustprinzip, wie man anfängt … als Kind … bestimmte Laute zu bilden, das macht Spaß und da fangen ja auch die Lautpoeten an, und so ist das mit akustischen Reizen generell ... Zum Beispiel so ein Wasserhahn, der völlig verrostet ist und quietscht. Aber wie der quietscht! Unfassbar brutal. Einfach nur die Beschaffenheit von diesem akustischen Ereignis ist so spannend, das nachzuvollziehen, dass das auf Lust basiert."

Mara Genschel verwendet das Wasserhahngeräusch in einem Textfilm, also einem Video, in dem nach und nach Wörter oder Textfragmente eingeblendet werden. In solchen Filmen kann sie die Lesegeschwindigkeit festlegen und gezielt Geräusche zur Illustration nutzen.

Ihre Textfilme und Audiocollagen bietet Mara Genschel kostenlos im Internet an. Sie lebt von Hartz IV und verdient nur gelegentlich durch Live-Auftritte etwas dazu …

Genschel: "Also reich werde ich damit nicht. Das ist klar. … Was ich halt nicht möchte, ist eine Arbeit machen, weil Leute sagen … das ist besser, weil man da etwas verdient. Ich will mich nicht davon abbringen lassen, dass meine Arbeit genauso wichtig ist. "

Sie schreibt, sammelt Geräusche und gibt in Kleinstauflagen Gedichtbände mit handschriftlichen Korrekturen heraus. Den Durchbruch zum kommerziellen Erfolg hat Mara Genschel noch nicht geschafft. Aber sie bleibt dran.


Mehr zur künstlerischen Arbeit von Mara Genschel finden Sie auf ihrem Internetblog.