"Wilde, verzückte Leidenschaft"

Gast: Jens Malte Fischer / Moderation: Olaf Wilhelmer · 12.08.2012
Ein Roman Goethes als Oper – geht das? Es geht, sogar sehr gut, wie der "Werther" von Jules Massenet beweist. Das Drama eines Selbstmörders ist heute neben der "Manon" die bekannteste Oper des französischen Komponisten, der vor 100 Jahren starb.
Eine schöne Geschichte: Jules Massenet besucht 1885 den "Parsifal" in Bayreuth und besichtigt bei dieser Gelegenheit auch die alte Reichsstadt Wetzlar, Schauplatz von Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers". Prompt zieht sein Reisegefährte, der Verleger Georges Hartmann, eine französische Übersetzung des Romans aus der Tasche – und der Komponist "konnte sich einfach nicht von der Lektüre jener glühenden Briefe losreißen, in denen so viele Gefühle innigster Leidenschaft steckten". So stellt es Jules Massenet in den kurz vor seinem Tod verfassten Memoiren dar – und wenn es auch Zweifel an dieser Geschichte gibt, so besteht doch kein Zweifel daran, dass sich Massenet von der "wilden, verzückten Leidenschaft" Werthers zu Charlotte zu seinem Meisterwerk inspirieren ließ.

Die Oper hatte es gleichwohl nicht leicht. Ungeachtet des großen Echos, den Goethes Roman von Anfang an auch in Frankreich erhielt, stieß das düstere Sujet im Pariser Opernleben auf Bedenken. Es war die Wiener Hofoper, an der Wilhelm Jahn das "Drame lyrique" Massenets 1892 zur Uraufführung brachte – selbst der gestrenge Kritiker Eduard Hanslick war davon angetan, wenn er auch einige Bedenken gegenüber dieser Romanadaption äußerte.

Mit viel Geschick haben Massenet und seine drei Librettisten die Kernszenen des Romans auf die Bühne gebracht und sogar – in der "Briefszene" Charlottes – einen Weg gefunden, um die eher abstrakte Gattung des Briefromans ins Bild zu setzen. Die Musik ist von erlesener Delikatesse – und damit alles andere als leicht zu interpretieren, obwohl sich für die äußerlich unspektakulär wirkenden Hauptpartien viele unterschiedliche Sängerinnen und Sänger interessiert haben.

Die Diskographie dieser Oper ist zwar vergleichsweise überschaubar, doch wurde die Interpretationsgeschichte von Anfang an dokumentiert: Sowohl der Werther der Wiener Uraufführung als auch die Charlotte der Pariser Erstaufführung sind in Aufnahmen aus dem Jahr 1903 dokumentiert. Bereits 1931 dirigierte Élie Cohen die erste Gesamtaufnahme, der einige andere Einspielungen folgten – in den vergangenen Jahren zeichnet sich ein verstärktes Interesse an diesem Werk ab.

Gast im Studio ist Jens Malte Fischer, emeritierter Professor für Theaterwissenschaft in München und Experte für die Geschichte des Gesangs.
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