Wilde E-Mails eines empfindsames Autoren

05.07.2011
Bei diesem Buch handelt es sich um die gesammelten E-Mails, die der Schweizer Autor Matthias Zschokke an einen Freund namens Niels geschrieben hat. Die Texte erlauben einen ungeschönten Blick in Psyche, Lebensweise und soziale Randlage eines Literaten.
"Unbedingt mehr verwildern in allem, was ich tue!", lautet die beherzte Maxime von Matthias Zschokke. Dass es der 1954 in der Schweiz geborene und seit 1980 in Berlin lebende Autor ernst damit meint, beweisen Umfang – 800 Seiten – und Art seines neuen Buches mit dem schlichten Titel "Lieber Niels". Es handelt sich um die gesammelten E-Mails an seinen Kölner Freund Niels Höpfner aus den Jahren 2002 bis 2009. Man kann das als eine Art Tagebuch lesen, das allerdings dadurch, dass es sich an ein Gegenüber wendet, einen offeneren Charakter gewinnt. Von Briefen unterscheidet sich dieses Genre durch die höhere Geschwindigkeit und Spontaneität.

"Lieber Niels" ist das paradigmatische Dokument schriftstellerischer Empfindsamkeit. Der Schriftsteller ist (fast) immer viel zu wenig erfolgreich und muss deshalb mit sich, den Konkurrenten, den Kritikern und dem Verleger, der alles falsch macht, hart ins Gericht gehen. Das ist definitionsgemäß ungerecht, aber ungerecht ist schließlich die ganze Welt. Zschokkes Einschätzungen muss man nicht unbedingt teilen, um Freude an ihnen zu haben. Sigmund Freud: ein Einfaltspinsel, Sekundärdenker, Langweiler, mindestens so überschätzt wie Goethe. Peter Weiss: grottenschlecht, ein humorloser Kursleiter für Marxismus in der Volkshochschule Lübeck. Oder Brigitte Kronauer: "Nein, Mittelmaß ist das nicht, aber Rainer-Virginia Proust, eine Mischung aus Mayröcker und Thomas Mann, mit einer Prise Joyce, alles auf dem neuesten Stand der germanistischen Forschung."

So viel "mag ich nicht" wäre ziemlich unerträglich, wenn man es nicht mit einem Menschen zu tun hätte, der das eigene labile Selbstbewusstsein stets gegen neue Misserfolge verteidigen muss. Weil er im Grunde gar nichts zu sagen hat und weil ihm darüber hinaus überhaupt nichts mehr einfällt und weil er das alles weiß, macht er daraus, dieses Dilemma auszuhalten, seine vornehmste Hauptaufgabe. Es ist demnach leicht nachzuvollziehen, dass Melvilles "Bartleby" zu Zschokkes literarischen Lieblingshelden gehört, ein Mann, der dem Gesellschaftstreiben und allen Arbeitsanforderungen mit dem schlichten Satz "Lieber nicht!" zu entkommen sucht. Zschokkes literarische Präferenzen führen weg vom Inhalt, von Handlung, vom Gefälligen, leicht Konsumierbaren. "Aufregende Sätze" will er stattdessen lesen und schreiben, Texte, in denen einer etwas von sich preisgibt. Haltung und Stil also, statt Handwerk und Standardware.

Zschokke erlaubt einen ungeschönten Blick in Psyche, Lebensweise und soziale Randlage eines Literaten, eine Randlage, die er zugleich als angemessen befürwortet. Dort, am Rand, ist er als Flaneur mit dem Fahrrad unterwegs, bleibt aber stets der Einzelgänger, der an Silvester um 22 Uhr zu Bett geht und an seinem 50. Geburtstag in der Stadt herumspaziert, um nur ja keine Glückwünsche entgegen nehmen zu müssen. Weil es ihm zu mühsam geworden ist, wäscht er sich nur noch einmal in der Woche und schränkt seine Sozialkontakte radikal ein. Selbst das Zähneputzen hat sich irgendwann in eine unangemessene Anstrengung verwandelt. Bleibt also nur noch Niels und die E-Mail als Sozialform des Rückzugs. Damit trotzt Zschokke Tag für Tag der Zeit und dem Älterwerden und der Vergänglichkeit neue Texte und Einsichten ab. "Lieber Niels" ist bei aller Grundtraurigkeit des Daseins vergnüglich, bei aller schlechten Laune sympathisch und bei aller Marktskepsis wild und unterhaltsam, also genau das, was gute Literatur ausmacht.

Besprochen von Jörg Magenau

Matthias Zschokke: Lieber Niels
Wallstein Verlag, Göttingen 2011
768 Seiten, 29,90 Euro