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Neue Filme im Kino
Gemächlich, geflüchtet, gefilmt

Jim Jarmuschs "Paterson" erzählt gemächlich von einem dichtenden Busfahrer. Im Mittelpunkt der Hans-Fallada-Verfilmung stirbt jeder für sich allein. Das Roadmovie "Die Reise mit Vater" schildert eine unfreiwillige Flucht aus Rumänien in die DDR und weiter. Selbst gefilmt haben afrikanische Flüchtlinge für "Les Sauteurs" ihren Alltag in Marokko.

Von Hartwig Tegeler | 16.11.2016
    Abou Bakar Sidibe (mitte) hat "Les Sauteurs" selbst gedreht: Er ist ein Flüchtling aus Mali. Estephan Wagner (links), Moritz Siebert (rechts) haben ihm eine Kamera mitgegeben.
    Abou Bakar Sidibe (mitte) hat "Les Sauteurs" selbst gedreht: Er ist ein Flüchtling aus Mali. Estephan Wagner (links), Moritz Siebert (rechts) haben ihm während der Flucht eine Kamera mitgegeben. (imago / Seeliger)
    "Paterson" - Jim Jarmusch
    "Heißt du wirklich Paterson oder ist das ein Spitzname? - Mein Name ist wirklich Paterson. - Das ist doch verrückt, oder? - Ja."
    Dass der Fahrer genauso heißt wie die Stadt, durch die er Tag für Tag seinen Linienbus steuert, ist schon das mit Abstand Verrückteste in diesem Film. Außer man fände es auch verrückt, dass hier alles so normal ist, so gewöhnlich und so unaufgeregt. Denn "Paterson", in dem Jim Jarmusch mehr als jemals zuvor die Kunst der Entschleunigung inszeniert, ist der Gegenentwurf zu einem rastlosen und schematischen Kino, das geprägt ist von dramatischen Konflikten und kathartischen Momenten.
    "Hallo, mein Schatz! - Hallo Liebling! - Wie war dein Tag? - Wie immer."
    Dieses "wie immer" zeigt Jarmusch anhand der stets gleichen Tagesabläufe des Busfahrers, der übrigens - nomen est omen - von Adam Driver gespielt wird. Sein Paterson wird aufstehen, sich auf den Weg zur Arbeit machen, vor seiner ersten Tour an einem Gedicht schreiben, nach Hause kommen, abends mit dem Hund Gassi gehen und seine Stammkneipe aufsuchen, bevor er am nächsten Tag genau dasselbe wieder tun wird.
    "Ich arbeite an einem Gedicht für dich. - Ein Liebesgedicht? - Ja, wenn es für dich ist, wird es das wohl sein."
    In anderen Filmen wären Paterson und seine Freundin spätestens nach 20 Minuten kreuzunglücklich mit ihrer Beziehung. Nicht so bei Jim Jarmusch, der mit seinem zwölften Spielfilm einen lakonischen Kommentar auf die Generation Smartphone abliefert, ohne dabei auch nur ein einziges Mal den Prediger zu geben.
    "Paterson": empfehlenswert
    "Jeder stirbt für sich allein" - Vincent Perez
    "Otto? Ich schreibe Karten. Ich schreibe die Wahrheit. Die Leute werden die Karten lesen, sie weitergeben."
    Mit Hilfe von Postkarten, die sie in der Stadt auslegen, ruft ein Berliner Ehepaar 1940 zum Widerstand gegen Hitler auf. Für den italienischen Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden Primo Levi war Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein!": "Das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde".
    Doch wo sich die Erzählung nicht nur für das Ehepaar interessiert, sondern auch für die übrigen Bewohner eines Berliner Mietshauses und so das System der Angst und den Verlust der moralischen Werte im Dritten Reich sichtbar macht, liefert der Schweizer Vincent Perez mit seiner Verfilmung nur grob geschnitztes Spannungskino ab. Befremdlich auch die Entscheidung, die Hauptrollen mit dem Iren Brendan Gleeson und der Engländerin Emma Thompson zu besetzen.
    "Jeder stirbt für sich allein": enttäuschend
    "Die Reise mit Vater" - Anca Miruna Lăzărescu
    " Was ist hier los? - Das hier ist kein Urlaub. Wenn alles gut läuft, operieren sie dich noch diese Woche."
    Wenn er auch nur das Geringste vom Plan seiner beiden Söhne geahnt hätte, wäre der schwerkranke William niemals ins Auto gestiegen und von Rumänien bis in die DDR gefahren. Im Jahr 1968, in dem die Geschichte von "Die Reise mit Vater" spielt, war diese Fahrt nur möglich, weil Staatschef Ceaușescu für kurze Zeit die Reisebestimmungen gelockert hatte. Was weder der Vater noch die beiden Söhne ahnen: Während sie in der DDR eintreffen, marschieren in der Tschechoslowakei die Truppen des Warschauer Paktes ein. Und so landen die Drei zusammen mit anderen Touristen zunächst in einem Auffanglager der DDR-Bereitschaftspolizei, bevor man sie wenig später in die Bundesrepublik Deutschland weiterreisen lassen will.
    "Nie im Leben lassen sie uns rüber. - Warum solltest du auch etwas Aufbauendes sagen?"
    In ihrem Film "Die Reise mit Vater" hat die rumänisch-deutsche Regisseurin Anca Miruna Lăzărescu die Erlebnisse ihrer eigenen Familie verarbeitet. Schade, dass diese Odyssee, die den perfekten Stoff für eine Farce abgegeben hätte, zu unentschlossen schwankt zwischen Familiendrama, Komödie und Geschichtsstunde.
    "Die Reise mit Vater": zwiespältig
    "Les Sauteurs" - Abou Bakar Sidibé
    "Hast du Angst? - Und du? - Ja." Ein kurzer Dialog am Anfang von "Les Sauteurs". Der Ort, an dem sich die beiden Männer aufhalten, ist der Berg Gurugu. Von ihm blickt man auf die spanische Enklave Melilla an der nordafrikanischen Mittelmeerküste. Seit mehr als 14 Monaten lebt hier Abou Bakar Sidibé, der aus seiner Heimat Mali geflohen ist. Für ihn wie für Dutzende andere Männer ist der Gurugu die vorläufige Endstation. Denn am Fuß des Berges verhindern Grenzanlagen ihre Weiterreise nach Europa. Trotzdem versuchen sie immer wieder, die Zäune zu überwinden und werden dabei von Grenzschützern niedergeprügelt und zurückgedrängt.
    "Melilla, unsere große Liebe. Melilla, Europa auf afrikanischem Boden." Hören wir Abou sagen. Das Besondere an diesem Film: Abou hat ihn selbst gedreht. Die Dokumentarfilmer Moritz Siebert und Estephan Wagner haben ihm eine Kamera in die Hand gedrückt. Dass hier der Protagonist selbst filmt, macht "Les Sauteurs" - auf Deutsch "Die Springer" - nicht nur zu einem besonders eindrücklichen Dokument der Lebenswirklichkeit von Migranten. Es ist auch ein unbequemer Film, der Fragen stellt: Fragen über uns, über Europa und über Menschlichkeit.
    "Les Sauteurs": empfehlenswert