Wien, melancholisch-terroristisch

Von Joachim Scholl · 06.04.2005
Die österreichische Jungautorin Clarissa Stadler schickt in ihrem Debütroman den namenlosen Helden N. durch ein mysteriöses, (alp-)traumhaftes Wien der Gegenwart. "N. Eine kleine Utopie" ist geprägt durch eine endzeitliche Stimmung aus Melancholie und Fatalismus. Es ist ein kurzes starkes Stück Literatur, das durch eine nüchterne, schnörkellose Sprache besticht.
"Eine Welt, die sich selbst in die Luft jagt, kann man nicht mehr porträtieren". Dieser drastische Ausspruch des österreichischen Romanciers Hermann Broch (1886-1951) dient Clarissa Stadler als Motto für ihren knapp 100-seitigen Text. Das Zitat ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: der Wiener Hermann Broch hat in den 1930er Jahren die Umwandlung moralischer Werte in seiner Roman-Trilogie "Die Schlafwandler" beschrieben.

Die Folie für den dort analysierten Untergang der bürgerlichen Welt lieferte der Erste Weltkrieg mit seinen politisch-sozialen Konsequenzen. Im Bild des Schlafwandlers manifestierte sich ein verändertes, gestörtes Bewusstsein für eine sonderbar "unwirklich" gewordene Realität. Solch einen Schlafwandler schickt Clarissa Stadler in der Gestalt ihres namenlosen Helden N. durch ein mysteriöses, (alp-)traumhaftes Wien der Gegenwart. Irgendeine Bedrohung liegt in der Luft, ein undefinierter und unerklärbarer Schrecken, "über den Häusern ist ein Hubschrauber zu hören. Das Knattern pflanzt sich als Druckwelle eines Unglücks fort, das aus der Ferne vage bleibt."

N. ist ein noch junger Mann, vermeintlich ohne Ziel und Ambitionen, gerade hat er seine Arbeitsstelle verloren, was ihn wenig kümmert. Er treibt auf der Oberfläche des Metropolenlebens, geht teilnahmslos shoppen, hat flüchtige Affären mit Frauen, steht in Bars und Clubs, auf Vernissagen herum, wohin ihn sein Künstlerfreund Paul mitschleppt.

Paul macht alberne Konzeptkunst, ist ein Möchtegern-Revolutionär, er schwadroniert von Gewalt und Umsturz, N. hört kaum hin, er fühlt sich nirgends richtig zugehörig. In seiner Lethargie wird N. durch das Mädchen Xenia gestört, eine geheimnisvolle Schöne und Kindfrau voller Aggressionen. Sie lebt allein in einer labyrinthischen, riesenhaften Wohnung, aus der sie eines Tages spurlos verschwinden wird: die kurz aufflackernde Liebe zwischen ihr und N. hat keine Chance. Und dann erschüttert eine Explosion die Stadt.

Clarissa Stadler ist 1966 in Wien geboren. Nach einem Wirtschaftsstudium hat sie als Journalistin für verschiedene Magazine und Zeitungen gearbeitet, auch als Rundfunk-Musikjournalistin und im ORF. Ihr literarisches Debüt besticht durch eine nüchterne, schnörkellose Sprache. Kurze, scharf geschnittene Szenen und Dialogen erzeugen eine endzeitliche Stimmung aus Melancholie und Fatalismus. In N. konzentriert sich diese Atmosphäre, die mit Worten nur zu umkreisen, nie exakt zu benennen ist. Wie soll man eine Welt beschreiben, in der alles zerfließt, kein Fixpunkt der Orientierung mehr gegeben ist und anscheinend alles dem Chaos oder gar Untergang entgegenstrebt?

Eben diese Frage haben Hermann Broch und auch Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften" auf Tausenden von Seiten beleuchtet und im Spiegel der Wiener Verhältnisse gestaltet. Stilistisch weit entfernt vom Parlando der österreichischen Großmeister, eher mit Anleihen des frühen Camus erprobt Clarissa Stadler eine moderne, extrem verdichtete Variante in Zeiten des Terrors. Im Untertitel des Textes, der eine traditionelle Gattungsbezeichnung scheut, heißt es "eine kleine Utopie". Welche diese wäre, bleibt rätselhaft in einem kurzen, starken Stück Literatur.

Clarissa Stadler:
N. Eine kleine Utopie
Literaturverlag Droschl Wien,
99 Seiten
€ 16