Wieczorek-Zeul: "Marshall-Plan" für Nordafrika

28.02.2011
Eine der wichtigsten Konsequenzen aus den politischen Umbrüchen in Nordafrika müsse eine neue europäische Flüchtlingspolitik sein. Das sagt die ehemalige Entwicklungshilfeministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD). Die EU müsse die Ursachen der Flüchtlingssituation bekämpfen - und nicht die Flüchtlinge selbst.
André Hatting: Die alte Ordnung in Nah-Ost und Nordafrika, sie bricht zusammen, und die Europäische Union ist überfordert. Erst das lange Zögern im Fall Mubaraks, bis zuletzt keine klare Rücktrittsforderung, auch nicht nachdem die USA ihren Verbündeten in Kairo fallengelassen hatte

Und jetzt Libyen, und wieder dauert es, bis die EU eine gemeinsame Linie findet. Immerhin, hin dieser Woche will sie Sanktionen gegen Gaddafis Libyen verhängen, die Vereinten Nationen haben das bereits getan. Am Telefon ist jetzt Heidemarie Wieczorek-Zeul, sie war bis 2009 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und sitzt jetzt für die SPD im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Guten Morgen, Frau Wieczorek-Zeul!

Heidemarie Wieczorek-Zeul: Guten Morgen!

Hatting: Warum gibt die EU eine so klägliche Figur ab?

Wieczorek-Zeul: Erstens habe ich den Eindruck, dass keiner die Einschätzung hatte, dass es diese grundstürzenden Veränderungen im Nahen Osten und in Nordafrika geben würde. Und zweitens hat sich glaube ich die EU zu lange auf Italien in den Beziehungen zu Libyen verlassen, das Stichwort Flüchtlingspolitik. Und es hing auch sicher damit zusammen, dass ein Teil der politischen Beziehungen zu stark etwa Frankreich und anderen früheren Kolonalmächten überlassen worden ist. Und das ist jetzt die Herausforderung. Die Europäische Union muss handeln und ihre eigene Konzeption entwickeln.

Hatting: Gilt das nicht auch für Deutschland? Ich meine, Sie waren selber zwölf Jahre Entwicklungshilfeministerin und das Verhältnis für Libyen war ja zumindest nicht davon geprägt, dass man Sanktionen gefordert hätte gegen Libyen.

Wieczorek-Zeul: Na ja, das kann man ja, kann ich selbst aus der eigenen Erfahrung noch mal gut erinnern: Es gab ja so eine Phase, in der dann die USA umgeschwenkt sind, und Gaddafi auf einmal als neuen Freund begrüßt haben.

Das habe ich immer für eine völlig falsche, verfehlte Politik gehalten. Jemand, der so vorgegangen ist, dem Waffen zu liefern, war wirklich unverantwortlich und völlig unerträglich. Und jemand, auch jetzt noch mal in der letzten Zeit, der die UN-Charta vor der UN-Generalversammlung zerreißt, dem gegenüber ist das tiefste Misstrauen angebracht, und deshalb muss da auch vorgegangen werden. Aber insbesondere – ich habe ja darauf verwiesen – hat die Europäische Union, und zwar über Italien, praktisch eine unerträgliche Kumpanei betrieben mit Libyen, um Flüchtlinge in libyschen Lagern zu halten, damit sie eben nicht nach Europa kommen.

Und meines Erachtens ist eine der wichtigsten Konsequenzen, dass eine neue europäische Flüchtlingspolitik verwirklicht wird, die den europäischen Werten auch entspricht, nämlich mit Menschlichkeit und Solidarität. Das ist eine der Schlussfolgerungen.

Hatting: Ja, interessant ist ja, dass gerade im Zusammenhang mit den Flüchtlingen immer von einer Abwehr der Flüchtlingsströme gesprochen wird. Wir begrüßen einerseits die Revolutionen in Nordafrika, wollen aber mit den Konsequenzen nicht leben?

Wieczorek-Zeul: Na vor allen Dingen, die meiste Belastung durch Flüchtlinge und durch die hohe Zahl von Flüchtlingen ist in den Nachbarstaaten in den arabischen Staaten selbst natürlich anzutreffen. Aber wie gesagt, es muss auch Schluss sein mit dieser Art von Politik. Und die Europäische Union braucht das, was wir formuliert haben, einen Marshallplan, der auch dazu beiträgt, dass Beschäftigung in den arabischen Ländern verwirklicht wird.

Sie braucht auch mehr als nur Erklärungen, nämlich insofern als die Marktöffnung auch für landwirtschaftliche Produkte etwa aus Tunesien verwirklicht wird. Und sie braucht – davon bin ich fest überzeugt und dafür werde ich mich engagieren – auch die Situation, dass keine Waffenexporte mehr in derart instabile Regionen erfolgen, in denen die Gefahr besteht, dass sie eben zur Verletzung von Menschenrechten auch eingesetzt werden.

Hatting: So ein Marshallplan, wie Sie ihn gerade beschrieben haben, um die Strukturen in den Ländern zu verbessern, um den Menschen dort eine Perspektive zu bieten, das braucht natürlich sehr viel Zeit. Wir haben aber jetzt ganz konkret Flüchtlingsströme. Wie muss jetzt eine Politik aussehen, die diesen Strömen gerecht wird?

Wieczorek-Zeul: Zunächst mal auch das: Man darf das auch nicht übertreiben. Bisher ist die italienische Regierung diejenige, die von den Flüchtlingsströmen spricht. Noch mal: Die meiste Betroffenheit ist im Moment in den arabischen Nachbarländern selber vorzufinden und meines Erachtens ist es eben notwendig, dass es eine entsprechende europäische Regelung gibt, die auch sicherstellt, dass diejenigen, die die Möglichkeit haben herzukommen, auch kommen.

Es muss auch die Möglichkeit geben, dass es zum Beispiel im akademischen Bereich Austauschprogramme gibt, damit Menschen Erfahrungen hier gewinnen und auch wieder zurückgehen können. Es muss auch das, was als sogenannte temporäre Migration vonseiten der Europäischen Kommission mal vorgeschlagen wurde, geben. Aber noch mal: Das Allerwichtigste ist, dass eben die Ursachen der Flüchtlingssituation bekämpft werden, und nicht die Flüchtlinge.

Hatting: Dafür will die EU bis zu 2,5 Milliarden Euro bereitstellen, also für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation dieser Länder. Wem soll man das Geld eigentlich in diesen unsicheren Zeiten anvertrauen: Dem Militärrat in Ägypten, der Übergangsregierung in Tunesien, wo schon wieder der Regierungschef zurückgetreten ist?

Wieczorek-Zeul: Na ja, es ist so, es kommt jetzt eigentlich sehr drauf an - die ganzen Veränderungen sind ja aus der Bevölkerung selbst in diesen Ländern gekommen - es kommt darauf an, dass dieser Prozess begleitet wird.
Ich greife jetzt Ägypten raus. Dass da zum Beispiel halt auch wirklich begleitet wird, dass Parteien sich gründen können, die dann auch in den Wahlen eine Chance haben. Das heißt, den Demokratisierungsprozess begleiten.

Und die Fragen, die ich eben genannt habe, also zum Beispiel die Öffnung von den Grenzen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Das sind Verhandlungen, die schon längst laufen, das kann die Europäische Union tun, denn das betrifft ja dann eben auch Exporte, die von Unternehmen erfolgen. Natürlich, dass keine Mittel in Etats eingezahlt werden, das versteht sich von selbst.

Hatting: Das war Heidemarie Wieczorek-Zeul, sie war bis 2009 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und sitzt jetzt für die SPD im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Frau Wieczorek-Zeul, herzlichen Dank für das Gespräch!

Wieczorek-Zeul: Bitte sehr!

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