Wie viel Religion darf ein Bürger zeigen?

Rezensiert von Rainer Kampling · 06.01.2013
"Wie hast Du's mit der Religion?" fragte schon Gretchen ihren Faust. Auch für einige der Philosophen, die 2009 an einem New Yorker Symposium teilnahmen, ist diese Frage nicht einfach zu beantworten. Religiöse Bürger, die in die Öffentlichkeit treten, werden von manchem kritischer beäugt als Atheisten.
Weit ausholend beginnt Jürgen Habermas mit einer Analyse der politischen Theologie Carl Schmitts. Der deutsche Soziologe tut dies nicht nur, um das Scheitern Schmitts aufzuzeigen, sondern eben auch denen zur Warnung, die Elemente einer politischen Theologie zur Begründung eines demokratischen Gemeinwesens wiederbeleben.

"Natürlich bleibt 'das Politische' solange ein zweifelhaftes Erbe, wie die Politische Theologie versucht, die Legitimation der Staatsgewalt auf die metasoziale Quelle zurückzuführen. Im demokratischen Verfassungsstaat hat die legale Ausübung der Herrschaft ihre religiöse Aura verloren. (…) Aber das heißt nicht, dass die Beiträge von Religionsgemeinschaften und religiösen Bürgern zur demokratischen Willensbildung ignoriert werden dürfen."

Trotz dieser Beteuerung kann man sich bei der Lektüre des Beitrags nicht des Eindrucks erwehren, dass er religiöse Bürger in Hinblick auf den öffentlichen Diskurs für defizitär hält. Während er in der Diskussion darauf abhebt, dass religiösen Menschen Erfahrungen und Glaubensinhalte einigen, über die andere nicht verfügen, geht es ihm im Vortrag um das Problem religiöser Sprache.

Gerade weil die Religionen einen gewichtigen Beitrag insbesondere zur ethischen Diskussion leisten können, müssen ihre Mitglieder, wenn sie denn am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen wollen, hinnehmen,

"dass der Gehalt ihrer religiösen Äußerungen in eine allgemeingültige Sprache übersetzt wird".

Aber auch die säkularen Bürger, wie Jürgen Habermas nichtreligiöse Bürger bezeichnet, haben ihren Beitrag zu leisten:

"In der politischen Öffentlichkeit dürfen sie religiöse Äußerungen nicht einfach ignorieren oder gar von vornherein als Unsinn abtun. In ihrem öffentlichen Vernunftgebrauch müssen sich säkulare und religiöse Bürger auf Augenhöhe begegnen können."

Der säkulare Bürger ist offensichtlich nach Meinung von Habermas einer Übersetzung seiner Begründungen und Beiträge zum Diskurs enthoben. Damit entsteht der Eindruck eines Ungleichgewichtes zwischen säkularen und religiösen Bürgern, deren Religion man zähmen muss.

Offensichtlich sah Charles Taylor, kanadischer Philosoph und Katholik, den Sachverhalt ähnlich, denn er betont den Wert religiöser Überzeugungen, um dann zu bemerken:

"Diese nur als Problem zu verstehen, für das wir eine neutrale Sprache finden müssen, ist falsch - das ist Miesepeter-Haltung, auf die wir verzichten können."

Charles Taylor setzt gegenüber Jürgen Habermas den Kontrapunkt. Er plädiert für eine radikale Neubestimmung des Begriffes Säkularismus. Da die Religion ein Aspekt unter anderen ist, gibt es innerhalb der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft keinen Grund, der eine negative Sonderstellung der Religion begründen würde. Dass es dennoch geschieht, liege nach Taylor an einem grundlegenden Missverständnis:

"Wir meinen, dass sich Säkularismus (...) um das Verhältnis zwischen Staat und Religion drehe, während es dabei doch tatsächlich um die Antwort des demokratischen Staates auf die Vielfalt geht."

Das Festhalten am vermeintlichen Konflikt von Gesellschaft und Religion erklärt er als Fortleben eines "Mythos der Aufklärung". Hierzu zählt er auch die Meinung, dass "Religion als mangelhafte Form der Vernunft" anzusehen ist. Diesen Mythos sieht er auch bei Habermas.

Der Vortrag der amerikanischen Philosophin Judith Butler fragt: "Ist das Judentum zionistisch?" Natürlich lautet die Antwort: Nein.

Was aber das Judentum überhaupt ist, wird in dem Beitrag nicht klar, außer dass sie offensichtlich für sich in Anspruch nimmt, "eine fortschrittliche jüdische Position" zu vertreten. Den besonderen Beitrag der jüdischen Religion zu gesellschaftlichen Diskursen sieht sie in der Gewaltkritik, die dem Judentum aufgrund seiner Diaspora-Erfahrung eigen ist. Diese Kritik richtet sich dann auch notwendig gegen die aktuelle Politik des Staates Israel.

Anders als Habermas und Taylor ist Butler gegenüber den Möglichkeiten der öffentlichen Konsensfindung skeptischer. Gerade in solchen Situationen können Religionen ethische Impulse zum Aushalten der Unversöhnlichkeit verschiedener Aspekte der Gesellschaft geben.

Cornel West ist gleichermaßen beeinflusst von amerikanischer Bürgerrechtsbewegung wie baptistischer Theologie und zumindest in den USA das, was man als einen intellektuellen Star bezeichnen könnte, der sich selbst als "einen Mann des Blues im Leben des Geistes und einen Mann des Jazz in der Welt der Ideen" bezeichnet. Seinen Text, der wohl eine wörtliche Wiedergabe seines Vortrages ist, hat Habermas in der Diskussion treffend so charakterisiert:

"Nur ein paar hundert Meter stadtaufwärts von der Wall Street hören wir, wie jemand nicht über prophetische Rede spricht, sondern sie in gewisser Weise praktiziert - nämlich in einer bewegenden Rhetorik, auf die angemessen zu reagieren heißen würde, dass man aufsteht und sein Leben ändert."

Mit einer Reihe von Zeugen, die von Platon bis Billie Holiday reicht, plädiert West für die kritische Instanz der prophetischen Religion in der Gesellschaft des Spätkapitalismus und für eine Kultur des Mitleids, die sich einer rein rationalen Begründung entzieht. Im Beitrag von West ist zumindest sprachlich die Macht der Religion gegenwärtig.

Eduardo Mendieta, Jonathan VanAntwerpen (Hg): "Religion und Öffentlichkeit: Dokumentation eines New Yorker Philosophen Symposiums 2009"
Suhrkamp Verlag Berlin, August 2012
Cover: "Religion und Öffentlichkeit" von Eduardo Mendieta und Jonathan VanAntwerpen
Cover: "Religion und Öffentlichkeit" von Eduardo Mendieta und Jonathan VanAntwerpen© Suhrkamp Verlag