Wie Mitgefühl im Gehirn entsteht

Moderation: Ralf Müller-Schmid · 02.07.2008
Die Hirnforscherin Tania Singer hat in Experimenten nachgewiesen, dass wir beim Anblick von Schmerzen von Mitmenschen dieselben Hirnregionen aktivieren wie bei eigenem Schmerz. Der Schmerz des anderen werde quasi simuliert im Gehirn und so stelle sich Empathie und Mitgefühl ein.
Müller-Schmid: In Zürich begrüße ich jetzt die Wissenschaftlerin, die diese spannenden Experimente durchgeführt hat, Tania Singer, Professorin an der Uni Zürich. Herzlich willkommen.

Tania Singer: Hallo.

Müller-Schmid: Frau Singer, wir haben gerade gehört, Mitgefühl ist im Gehirn verankert. Wo denn genau?

Singer: Das hängt davon ab, mit was wir mitfühlen. Also wenn zum Beispiel wir mit Schmerz mitfühlen, wie wir das jetzt gerade gehört haben im Beitrag, dann werden eben Teile dieser Schmerzmatrix im Gehirn reaktiviert. Das sind also andere Teile, als zum Beispiel wenn wir sehen, dass jemand gestreichelt wird auf seine Hand zum Beispiel. Dann würden andere Areale reaktiviert werden, die eben das Streicheln auf der Hand, die dieses Gefühl von Streicheln bei uns selbst kodieren.

Müller-Schmid: Dann habe ich das richtig verstanden, dass der Schmerz, den man selber empfindet, ein anderes Areal beschäftigt im Gehirn als der Schmerz, den andere erleiden, wo wir dann Zeugen dessen sind.

Singer: Ja, sagen wir mal so: Es gibt eine sehr komplexe Schmerzmatrix, und Schmerz ist eine sehr komplexe Emotion. Da gibt es, was man sensorisch-diskriminatorische Komponenten nennt, das heißt zum Beispiel, es gibt Areale, die dafür codieren, wie intensiv der Schmerz ist und wo er auf dem Körper stattfindet, ob zum Beispiel auf der linken Hand oder der rechten Hand oder Fuß. Und diese Information, die wird eigentlich nur aktiviert, wenn wir wirklich selber Schmerzen haben, obwohl es auch Spezialfälle gibt, wenn zum Beispiel Ihre Aufmerksamkeit bei der Empathie ganz stark auf die Muskeln von jemand anderem ... - also Sie sehen zum Beispiel Bilder, wo eine Spritze in die Muskeln geht, dann würden Sie sogar auch diese somatosensorischen diskriminativen Areale wieder reaktivieren.

Aber normalerweise wird eher das, was man die affektive Komponente von Schmerz nennt, das ist ein Teil der Schmerzmatrix, was mir das subjektive Gefühl der Aversion, dass es sich schlecht anfühlt, dass es weh tut, diese negative Emotion codiert. Und das ist typischerweise in Empathie für Schmerz sehr stark aktiviert.

Müller-Schmid: Kann man das so sagen, dass der ungeheuren Differenzierung unserer Gefühlswelt auch eine sehr feine, differenzierte Verdrahtung im Gehirn entspricht?

Singer: Genau. Das Gehirn hat selten nur ein Areal, um für irgendetwas zu codieren oder zu repräsentieren, sondern es sind meistens Netzwerke von unterschiedlichen verdrahteten Arealen. Und im Falle des Schmerzes nennt man das Schmerzmatrix. Was wir halt zeigen können, ist dass in der Empathie Teile oder manchmal sogar die ganze Schmerzmatrix reaktiviert wird, wenn wir jemand anderes leiden sehen, obwohl ja nichts in unser Hirn reinkommt, in unseren Körper. Das ist ja quasi nur durch das Mitfühlen, aber in der Abwesenheit von jeglicher Stimulation, kein Schmerz da eigentlich.

Müller-Schmid: Aber Frau Singer, mal Hand aufs Herz, ist das nicht auch eine Binsenweisheit, dass man mehr leidet, wenn jemand, den man mag, Schmerzen erleidet, als bei einem Menschen, den man nicht mag, oder zum Beispiel bei Kindern, die sind besonders schutzbedürftig, deshalb leidet man dann auch entsprechend mehr mit? Um so etwas zu wissen, braucht man doch keine Magnetresonanztomographen.

Singer: Ja genau, das war auch nicht der Grund, warum wir die Untersuchung gemacht haben. Also die erste Untersuchung, von der die Rede war, mit den Paaren, war nicht zu sehen, ob man, wenn man jemanden mehr mag, mehr leidet, sondern es gab in dieser Phase noch überhaupt keine neurowissenschaftlichen Untersuchungen zu Empathie. Das heißt, damals gab es noch den Glauben, dass wir Empathie darüber erfassen, dass wir einfach wissen, okay, der hat Schmerzen, das tut wahrscheinlich weh, aber nicht, dass wir mehr oder weniger das nachfühlen, das nennt man "embodied cognition", also indem wir quasi die eigene Schmerzmatrix reaktivieren. Das heißt, der Grund, warum wir die erste Studie gemacht haben, war, um zu zeigen, wie eigentlich das Hirn dieses Problem löst, um zu zeigen ...

Müller-Schmid: Das heißt, das geht wirklich so tief, dass wir im Grunde die Schmerzen des anderen in unseren Gehirnen noch einmal simulieren, um sie nachempfinden zu können. Kann man das so sagen?

Singer: Genau, das nennt man auch Simulationstheorie. Also wir simulieren sozusagen das Gefühl, wie es bei uns repräsentiert ist, wenn wir selber das Gefühl haben, noch mal mitfühlen, wenn jemand anderes leidet, obwohl das in Millisekunden passiert und teilweise auch unbewusst. Also die Leute zum Beispiel in der ersten Untersuchung wussten gar nicht, dass es um Empathie geht. Wir haben sie auch nicht gebeten, bitte fühlen Sie sich jetzt rein, sondern haben einfach gesagt, gucken Sie einfach zu, was mit Ihnen und anderen passiert. Man kann also auch zeigen, dass diese Reaktionen auch passieren, wenn man nur Videos sieht von schmerzverzehrten Gesichtern oder von Wunden oder so, obwohl es gar nicht der Partner ist. Das heißt, es sind relativ basale, unbewusste Reaktionen, die da im Hirn stattfinden, ohne dass wir uns bewusst sind. Das war also die erste Erkenntnis.

Und die zweite Studie, von der die Rede war, da ging es nicht darum, mag ich jemanden oder nicht, sondern ob soziale Fairness und Kooperation ein modulierender Faktor ist. Und zwar gibt es die Hypothese in der Neurowissenschaft, vielleicht haben Sie von den Spiegelneuronen schon etwas gehört, dass eben diese Spiegelneuronenaktivität, oder eben diese empathische Aktivität völlig automatisch passiert, ohne dass man sie in irgendeiner Form modulieren kann.

Müller-Schmid: Das heißt, die Umstände spielen keine Rolle für das, was eben im Gehirn, dann tatsächlich an neuronalen Prozessen vorliegt.

Singer: Genau, die Idee ist, man sieht Schmerz, paff, Schmerzmatrix ist an, ganz egal wer es ist in welcher Situation und so. Wir wollten eben ein Beispiel zeigen dafür, dass wahrgenommen Fairness, nicht ob man jemanden mag oder nicht, sondern ob jemand fair war oder nicht fair war, ob sozusagen das aktiviert wird. Und dann wollten wir eine zweite Frage stellen, inwieweit wir Empathie auch in das Gegenteil Schadenfreude umwandeln können. Das heißt, ob wir Evidenz dafür haben, dass Belohnungsareale aktiviert werden, die eigentlich dann aktiviert werden, wenn wir zum Beispiel antizipieren können, dass wir Schokolade bekommen oder positive Verstärker.

Und was wir zeigen konnten, ist dass in Männern aber nicht in Frauen - das heißt, wir haben hier auch Geschlechterunterschiede untersucht zusätzlich in der Studie, also gibt es Geschlechterunterschiede in empathischen Reaktionen zu fairen oder unfairen Spielern - und haben gezeigt, dass in Männern aber nicht in Frauen Schadenfreude über die Empathie gewinnt, wenn man einen unfairen Spieler leiden sieht.

Müller-Schmid: Frau Singer, das ist natürlich jetzt ein dickes Ding, was Sie da eben en passant gesagt haben mit den Männern und der Schadenfreude. Heißt das ins Landläufige übersetzt, dass das männliche Gehirn bei Schadenfreude tatsächlich ein hohes Belohnungsempfinden hat, also uns macht das mehr Spaß als den Frauen, schadenfroh zu sein?

Singer: Also in diesem Experiment mit diesen Männern und diesen Frauen, die wir angeguckt haben, das sind ja nicht viele, nicht repräsentativ für die ganze Bevölkerung, aber da war es ganz eindeutig so, dass wenn man denen physischen Schmerz zugefügt hat, den unfairen Spielern, Männer aber nicht Frauen eine vollkommene Abwesenheit von Aktivität in der Schmerzmatrix, also von der Empathie gezeigt haben, aber dafür eine belohnungssensitive Aktivität im Nucleus accumbens, also in Belohnungsarealen gezeigt haben. Und das war auch korreliert oder assoziiert mit dem Ausmaß, indem sie gesagt haben, dass sie auch ein Bedürfnis nach Rache hatten. Also wenn wir sie am Ende gefragt haben, wie sehr fanden sie das eigentlich gerecht, dass die bestraft wurden, wie sehr hatten sie ein Bedürfnis, sie Schmerz erleiden zu sehen, da waren alle Männer letztlich positiv und sagten, nein, es geschieht ihnen Recht. Und umso stärker dieses subjektive Bedürfnis, umso höher auch die Aktivierung in diesen Arealen.

Müller-Schmid: Muss man sich da nicht als nächstes fragen, haben die Frauen jetzt tatsächlich so eine harte Verdrahtung in ihrem Gehirn, dass die emotionalen Begleiterscheinungen von Handeln besonders ausgebaut sind, die Männer etwas kühler, distanzierter da herangehen, oder ist das nicht auch schon Folge von Jahrhunderte lang eingeübten gesellschaftlichen Ritualen?

Singer: Also erstmal um nur klarzustellen, die Frauen und die Männer haben sich nicht unterschieden, wenn sie gesehen haben, dass ein fairer Spieler bestraft wurde. Das heißt, die Empathie ist prinzipiell bei Frauen und bei Männern die gleiche. Das war jetzt nur, wenn jemand unfair gespielt hat.

Und zweitens die Frage, die Sie stellen nach Biologie, Genetik oder Kultur kann nicht beantwortet werden aufgrund einer fMRI -Studie. Wir wissen natürlich nichts darüber, ob das quasi bei Geburt schon dort war oder ob das kulturell bedingt ist. Dafür müsste man völlig andere Studien machen. Daher kann ich dazu wirklich überhaupt nichts sagen, außer grob zu spekulieren. Wenn kulturelle Prägungen sehr früh angefangen haben, können die ja auch in die Biologie eingehen. Da gibt es eine Interaktion dann.

Müller-Schmid: Wie passen denn Ihre Ergebnisse in die Biologie, sagen wir in Darwins Evolutionstheorie? Müssen wir "surviving of the fittest" jetzt so verstehen, dass wir Menschen auch emotional besonders gut ausgerüstet sind, um zu überleben?

Singer: Prinzipiell: fMRI-Studien sagen nichts über die Evolutionstheorie von Darwin aus.

Müller-Schmid: Klar, aber jetzt will ich Sie zu wissenschaftlichen Spekulationen anreizen.

Singer: Man kann da nichts dazu sagen. Das einzige, was man sagen kann, ist dass unsere Gehirne zumindest so verdrahtet sind, dass wir sehr, sehr viel mehr mitbekommen von dem, was andere Menschen fühlen, denken oder vorhaben - auch Handlungsintentionen werden bei uns im Gehirn kodiert, als wären es unsere eigenen. Das heißt, was unsere Forschung nahelegt, ist dass wir Menschen sehr viel weniger getrennt voneinander sind, als wir das sonst so annehmen.
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