"Wie meine eigene Beerdigung"

Neda Soltani im Gespräch mit Joachim Scholl · 15.05.2012
2009 wurde während der Proteste in Teheran eine junge Frau erschossen - ihr Tod wurde zum Symbol der Opposition. Die angebliche Fotografie ihres Gesichts wurde über soziale Netzwerke in alle Welt verbreitet, doch es war in Wahrheit das Porträt einer Uni-Dozentin mit ähnlichem Namen, die heute in Deutschland lebt.
Joachim Scholl: Wir wollen jetzt die Geschichte einer dramatischen Verwechslung erzählen. So hat die Iranerin Neda Soltani ihr Buch "Mein gestohlenes Gesicht" untertitelt. Und es ist in der Tat eine so dramatische wie tragische Geschichte, weil durch eine simple Namensgleichheit das Leben von Neda Soltani von einem Tag auf den nächsten völlig aus den Fugen geriet, die angesehene Universitätsdozentin verfolgt wurde, fliehen musste, jetzt in Deutschland lebt. Willkommen im Radiofeuilleton, Neda Soltani!

Neda Soltani: Herzlichen Dank!

Scholl: Am 20. Juni 2009 wurde während der Proteste in Teheran eine junge Frau erschossen und ihr Tod wurde zum Symbol der politischen Opposition. Fatalerweise hieß sie Neda Agha Soltan. Und das Bild, die Fotografie ihres Gesichtes, das sich dann in Windeseile in alle Welt verbreitete, war Ihr Bild, Frau Soltani. Ein Bild, dass Sie auf Ihrem Facebook-Account gespeichert hatten. Erzählen Sie uns: Was passierte an jenem Tag, als man, ja, auf diese Weise Ihr Gesicht gestohlen hatte?

Soltani: Ja, natürlich, die ganze Geschichte passierte in dem Zeitraum von zwölf Tagen so. Alles war so schnell passiert und so dramatisch, dass ich gar kein klares Verständnis hatte, was ich erwarten müsste, was danach kommt, das war so schockierend für mich persönlich. Und nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie, meine Freunde und Bekannte auch.

Scholl: Was passierte denn genau an diesem Tag, als Sie feststellten, Ihr Bild ist jetzt plötzlich in aller Welt und alle meinen, ich bin tot?

Soltani: Ja, das war… als ich das zuerst im Fernsehen gesehen habe, war es eigentlich wie meine eigene Beerdigung. Also das war kein gutes Gefühl, ja, weil man denkt, das – okay, das könnte wirklich ich sein. Weil ich weiß, Frau Agha Soltan war auch, wie ich, überhaupt kein politischer Mensch. Diese Frau konnte jede andere Frau sein, und ich hatte das Gefühl, als ich dieses Trauerband sah mit meinem Gesicht, mit meinem Foto, und dass zum Beispiel die Leute mit meinem Foto weinten oder mit Kerze und roter Rose für mich weinten – das war wirklich wie eine Beerdigung.

Scholl: Nun sagten Sie sich selbst und Ihre Freunde auch, na, das wird sich schon klären, das wird man richtigstellen, aber das gelang nicht. Warum denn eigentlich nicht?

Soltani: Genau. Am Anfang dachte ich, dass es wirklich nur ein Fehler war und ich wartete, und meine Freunde waren auch der Meinung, dass, wenn Frau Agha Soltans Familie ein richtiges Bild und authentisches Bild von der jungen Dame verbreitet haben, mein Foto war vorbei und die Medien würden das nicht mehr benutzen. Aber nach ein paar Tagen sah ich, die Situation war nicht so wie ich gedacht und wie ich mir gewünscht habe. Und dass der Fehler nach ein paar Tagen kein Fehler war, es war der Missbrauch meines Fotos und meiner Identität.

Scholl: Sie gerieten dann in das Visier der Staatssicherheit, des Geheimdienstes. Hat man dort diese Verwechslung einfach ignoriert und auch nicht geglaubt. Man hielt Sie dann sofort für eine feindliche Agentin.

Soltani: Für das iranische Regime war die Situation ganz anders, weil eigentlich das dramatische und tragische Video von Frau Agha Soltans Tod, das war so ein großer Skandal für das iranische Regime, dass sie nur aus diesem Skandal rauskommen wollten. Und natürlich war meine Geschichte der einzige Teil von der ganzen Geschichte von Agha Soltan, der eigentlich nicht wahr war, es war eine falsche Behauptung der westlichen Medien. Und das iranische Regime wollte diesen Fehler benutzen, um zu sagen, dass die ganze Geschichte von Frau Agha Soltan falsch und westliche Propaganda gegen das iranische Regime war.

Scholl: Was hat man dann von Ihnen verlangt bei diesen ja doch auch sehr bedrohlichen Verhören, das war ja kurz davor, dass Sie fast gefoltert wurden.

Soltani: Am Anfang, wie ich gesagt habe, wollten sie meine Geschichte benutzen und in die Richtung gehen, dass ich sage, ja, das bin ich und hier ist mein Foto, das sie überall im CNN, Fox News, BBC und in allen wichtigen Zeitungen in der Welt, New York Times, Guardian, The Times gesehen haben. Und hier bin ich, und mir geht es gut und ich lebe noch. Und mit dieser Geschichte wollten Sie sagen: Sehen Sie, Leute, das ist nicht wahr. Aber weil ich das nicht machte, ich konnte und wollte nicht mit diesem Plot kooperieren, haben sie danach mich selbst beschuldigt, der Spionage und Verrat beschuldigt.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Neda Soltani. Eine Namensverwechslung zerstörte ihr Leben im Iran und jetzt hat sie über ihr Schicksal ein Buch geschrieben. Nun muss man sagen, Frau Soltani, dass Sie nicht der Vorstellung einer konservativen muslimischen Frau entsprechen. Sie haben Karriere an der Universität gemacht, Sie wollten nicht heiraten, keine Kinder haben, erst einmal. Sie studierten Anglistik, also die Sprache und Kultur des traditionellen Klassenfeindes. Man kann die iranischen Geheimdienstler von ihrem Denken her ja fast verstehen, dass sie misstrauisch wurden und in Ihnen eine Oppositionelle vermuteten. Das waren Sie aber gar nicht. Wie standen Sie denn zu dem Regime?

Soltani: Ja, genau. Wie ich gesagt habe, ich war überhaupt nicht politisch aktiv. Das bedeutet nicht, dass ich kein Interesse hatte oder dass ich mich um die Situation in meiner Heimat nicht Sorgen machte, aber auf der anderen Seite, ich dachte immer, jeder Mensch muss was machen, das der Gesellschaft im Allgemeinen hilft. Und bei mir war das, meine akademische Karriere zu verfolgen und meinen Studenten und Studentinnen zu helfen. Also ich war überhaupt nicht aktiv in der Politik, aber leider wegen dieses Missbrauchs meines Fotos hat sich mein ganzes Leben in diese Richtung entwickelt.

Scholl: Sie kamen dann nach Deutschland mit nichts außer einer kleinen Tasche, machten die lange Prozedur des Asylbewerberverfahrens durch. Wie geht es Ihnen denn heute, Frau Soltani?

Soltani: Das war ein wirklich ganz schwieriger Prozess. Eine ganz schwierige Zeit, aber ich hatte und habe das Glück, dass ich viele nette Leute kennengelernt habe, und ich habe mein neues Leben im Vertrauen mit diesen netten Leute aufgebaut. So, das ist die Welle von Kraft für mich persönlich.

Scholl: Als Anglistin werden Sie sicherlich an den Satz aus Shakespeares Hamlet gedacht haben, "Time is out of joint", die Zeit ist aus den Fugen – bestehen denn hier Aussichten für Sie, eventuell auch wieder in Ihrem Beruf zu arbeiten?

Soltani: 2011 habe ich ein Forschungsstipendium für das Institute of International Education bekommen. Das ist ein besonderes Programm, das sie haben, der heißt "Scholar Rescue Fund". Und das ist für die akademischen Leute, die entweder im Exil wohnen oder in ihrer respektiven Heimat unter Druck sind. Ich hab ein Stipendium, ein Forschungsstipendium gekriegt, und seit Januar 2012 arbeite ich für ein Jahr in Amerika wieder als Dozentin.

Scholl: Das Internet, Facebook, Youtube waren so entscheidend für die Rebellionen, die Revolutionen in der arabischen Welt, Frau Soltani. So als Medium Freiheit: Ihr Bild auf Facebook wurde zum Fluch Ihres Lebens, kann man sagen, a curse of your life.

Soltani: Genau.

Scholl: Dennoch haben Sie Ihren Account nicht gelöscht. Warum eigentlich nicht?

Soltani: Ich sage immer, dass diese Sozialnetzwerke ein wichtiger Teil unseres modernen Leben sind. Und man kann nicht sagen, die sind alle ganz schlecht und ganz gefährlich. Was ich glaube, jeder von uns muss vorsichtig und verantwortlich sein, wie wir in der virtuellen Welt – in virtual world, ja – funktionieren. Was wir mit dieser unbegrenzten Welt mitteilen. Auf der anderen Seite, was ich persönlich schlecht finde, ist, wie fahrlässig manchmal die professionellen Journalisten mit Ideen oder Informationen, die in diesen sozialen Netzwerken rauskommen, wie professionelle Journalisten diese Informationen behandeln. Ohne Recherche und ohne die Dateien zu verifizieren. Und meine Geschichte ist ein klares Beispiel, wie gefährlich das für die Menschen sein kann.

Scholl: Wie ist es Ihrer Familie nach Ihrer Flucht ergangen? Sie haben sich doch wahrscheinlich bestimmt auch Sorgen gemacht, Frau Soltani, dass die Staatsmacht jetzt an Ihren Verwandten eventuell rächen könnte. Haben Sie noch Kontakt?

Soltani: Ich habe wenig Kontakt mit meiner Familie. Wegen dieser Sicherheitssache und – ja, natürlich war die Situation nicht einfach für meine Familie auch. Weil sie waren auch zu schockiert und niemand konnte es glauben, dass ein ganz einfaches Foto unser ganzes Leben ruinieren kann. Also für mich persönlich war das so dramatisch, aber auch für meine Familie war es, und ich glaube, ist noch nicht so einfach, mit dieser Geschichte zurechtzukommen.

Scholl: Neda Soltani. Wer jetzt ihre ganze Geschichte dieser dramatischen Verwechslung im Detail erfahren möchte, der kann ihr Buch lesen. "Mein gestohlenes Gesicht", heute erscheint es im Kailash Verlag, hat 352 Seiten, kostet 19,99 Euro. Neda Soltani, danke, dass Sie bei uns waren, und alles Gute Ihnen!

Soltani: Vielen Dank!

Redaktioneller Hinweis: Das Manuskript weicht von der Sendefassung ab.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.