Wie man sich seiner Vergangenheit entledigt

29.06.2010
Was zunächst nach einem Urlaubs- oder Ferienroman klingt, entpuppt sich nach und nach als ein ganz anderes Genre. Seit ihrem ersten Buch ist Nina Jäckles Thema die Ordnung des Lebens, wie sie gefährdet wird und auf welche Weise sie sich neu gewinnen lässt.
Es sind die kleineren und größeren Katastrophen, durch die ihre Figuren aus dem Tritt geraten. Bisher befanden sie sich zumeist in überschaubaren Räumen, jetzt schickt Jäckle ihre Heldin in eine fremde Stadt: Sevilla.

Eine namenlose Deutsche kommt in dem andalusischen Touristenort an, doch sie interessiert sich nicht für Sehenswürdigkeiten, sie mietet kein Hotelzimmer, sie lässt sich in einer Wohnung nieder, offenbar bleibt sie für länger. Ihre einzige Beschäftigung: Sie wartet. Sie wartet auf "Ihn", von dem sie sich irgendwo in Deutschland getrennt hat, er wolle später nachkommen, hat er versprochen, wann, hat er nicht gesagt.

So zieht sie ziellos durch die Straßen Sevillas, in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht - einmal am Tag überquert sie nach einem festen Plan den großen Platz ("nach mir werden sie bald die Uhren stellen") - sie beobachtet das Treiben der Menschen, beobachtet sich selbst. Es gibt den Wirt mit seinem Hund, Mercedes, eine Trinkerin oder den "Nachbarn", dem sie trotz fehlender Worte näher kommt.

Sie hat viel Geld bei sich - soviel, dass es eine Schublade füllt. Warum und woher es stammt, bleibt lange unaufgeklärt. Klar ist jedoch, dass die verschiedenen Linien der Geschichte, die geschickt ineinander verflochten, mit kriminalistischem Sinn stets nur halb angedeutet werden, auf ein Unheil zusteuern – oder ein glückliches Ende.

Dass der Roman weitaus mehr als ein Krimi ist, verdankt sich nicht nur der raffinierten Konstruktion eines Dramas zwischen zwei Protagonisten, von denen der eine, stets abwesend, nur durch die Imagination des/der anderen existiert. Er verdankt sich vor allem der Sprachkunst von Nina Jäckle, die soeben auch eine Künstlernovelle unter dem Titel "Nai oder was wie so ist" vorgelegt hat.

Jäckle besitzt ein ausgeprägtes Gespür für den Rhythmus der Sätze, Funken schlägt sie aus dem klanglichen Potenzial der Sprache, aus Alliteration und Assonanz, freilich ohne dass diese Kunstfertigkeit je künstlich wirkte. Sie spielt mit Formen des Reims, mit psalmodierenden und liturgiehaften Tonfällen, man merkt das Handwerk der Songschreiberin, die für den Gitarristen und Jazz-Performer Urban Elsässer arbeitet. So entfaltet sich ein eigentümlicher Sog, der trotz der anfänglichen Handlungsarmut, sich überlagernden Motiven in einem Musikstück ähnlich, den Gang der Erzählung vorantreibt. Dabei hängt kein Hauch von Lieblichkeit über dieser Geschichte einer Trennung, kein Kitsch nirgendwo. Man merkt, hier wacht eine Domina der Sprache.

Einen besonderen Reiz verleiht diesem Roman um das Abenteuer, wie man sich seiner Vergangenheit entledigt, ohne ihr ganz entrinnen zu können, die Rolle, die die fremde Sprache spielt. Immer wieder tauchen im Text spanische Wörter auf, "spanische Dörfer" gewissermaßen, die die Ich-Erzählerin (wie der Leser womöglich auch), nicht versteht. Mehr als eine kunsthandwerkliche Marotte - dekliniert Jäckle damit doch ein scheinbar abgegriffenes Thema überraschend neu: Sprache macht die Welt erst zu dem, was sie ist, Sprache erschafft die Realität und unseren Blick auf sie, macht sie also zu einem womöglich trügerischen Spiel. Und weil das so ist, lässt sich das, was wir für die Wirklichkeit halten, verändern - in jedem Moment des Lebens. Auswege gibt es immer.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Nina Jäckle: Sevilla
Roman
Berlin-Verlag, Berlin 2010
142 Seiten, 18 Euro