Wie lange dauert das Jetzt?

    Die Kunst sich zu fadisieren

    Der Medien- und Klangkünstler Thomas Wagensommerer
    Der Medienkünstler Thomas Wagensommerer läutet mit seiner generativen Komposition "~NOWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWW~" den Beginn der Klangkunst-Reihe KONTINUUM ein. © Foto: Louise Linsenbolz
    05.02.2020
    Auf dem Klangkunst-Sendeplatz von Deutschlandfunk Kultur ist ab sofort ein neuer Sound zu hören. Immer, wenn ein anderes Hörstück die Sendezeit nicht ausfüllt, tauchen Hörer*innen ein ins Jetzt von Thomas Wagensommerer. Das Hörstück "NOW" ist die erste Ausgabe der neuen Reihe KONTINUUM von Deutschlandfunk Kultur und Ö1 Kunstradio. Sagen Sie, wie schnell vergeht ein Augenblick, Herr Wagensommerer?
    Thomas Wagensommerer, mit wie vielen W's schreibt sich "NOW"?
    ~NOWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWW~ hat 24 W‘s, weil es auch um 24 steps geht, also um 24 Jahre, die sozusagen von 2020 zurück und nach vorne gerechnet werden. Die Tilde vorne und hinten ist eine Hilfestellung für mich gewesen, um mir ein System vorzustellen. Ein System, das irgendwie eine Balance in sich hat und keinen wirklichen Anfang und kein wirkliches Ende.
    Wie gehen Sie das Jetzt an?
    Diese Auseinandersetzung mit dem Now oder auch mit dem Jetzt hat sich aus einer theoretischen Überlegung heraus ergeben: Wie kann ich eigentlich eine Vergrößerung der Gegenwart darstellen? Eigentlich eine unendliche Ausdehnung des jetzt? Das ist ja irgendwie ein Thema, das sich durch alle Sparten und durch alle Denkrichtungen immer wieder zieht. Also: Was ist das Jetzt? Und wie kann ich das überhaupt begreifbar machen? Und ich hab mir gedacht, ich versuche da einen spielerischen Zugang und dehne ein gesungenes Wort aus, nämlich das Wort "now". Und das speziell von einem Song von Celine Dion, "It’s all coming back to me now".
    Warum der Song von Céline Dion?
    Erstens, weil der Song von 1996 ist, also von 2020 ausgehend zurückgerechnet 24 Jahre. 1996 wurde außerdem die "The Long Now Foundation" gegründet. Also eine NGO, die sich mit dem Begriff des Jetzt und auch mit dem Vordenken des Jetzt beschäftigt. Und dieses Ausdehnen oder dieses Verwenden dieses Wortes von Céline Dion war auch spannend, weil auch Céline Dion dieses Wort schon stretcht im Song. Popsongs und gerade der von Céline Dion spielen ja oft mit Money Notes, wo der Aufbau eines Stücks zu einem bestimmten Moment hinführt, was in diesem Song eben auch dieses "now" ist. Im Song dauert das fünf Sekunden, und mein Plan ist, dass dieses Now auf ein Jahr ausgedehnt wird.
    Was fasziniert Sie am Jetzt?
    Der Punkt, der mich am meisten interessiert, ist, dass Awareness und Aufmerksamkeit medial gerade so wahnsinnig ausgeschlachtet werden. Die Apps, die am meisten heruntergeladen werden, sind Apps, die sich mit Meditation, mit Aufmerksamkeit und einer Rückbesinnung auf das Jetzt beschäftigen. Das Jetzt rutscht sehr stark in einen kommerziellen Sektor hinein. Und in einer Gesellschaft, die ihre Zeitkapazität schon langsam an ihre Grenzen gebracht hat, geht es auch sehr oft darum, das Jetzt mit allem möglichen aufzuladen, was nur in diesem Jetzt möglich ist.
    Ich wollte versuchen, diese Langeweile, dieses Jetzt auf eine Art und Weise zu betonen, die fast schon nicht mehr ertragbar ist. Also diesen Zustand so lang auszudehnen, dass man die eigentliche musikalische Komponente komplett verliert und ein bisschen auch auf sich selbst zurückgeworfen wird, weil man auf diese Zwischenmomente, also auch auf diese Phasen des Übergangs zurückgeworfen wird. Also auf das, was dazwischen liegt. Also was in diesen Sound fällt, gewissermaßen auf eine Art und Weise vergraben ist, das ich wie mit einem Mikroskop nach vorne bringe. Und ich spiele natürlich auch mit dieser Langeweile.
    Und das ist etwas, was mich wahnsinnig interessiert: Wie gehe ich mit dem Jetzt um? Wie geht eine ganze Gesellschaft mit einem Jetzt um? Und wie kann ich mich darauf zurückbesinnen, dass Langeweile etwas ist, was eigentlich vollkommen okay ist und was auch ganz gut ist? Und dass ich nicht sofort mein Smartphone herausholen muss, wenn ich mal in einem Jetzt bin, wo kein Inhalt passiert und dass ich mich nicht sofort auf irgendeinen anderen Planeten irgendwohin beame mit meinem Smartphone, sondern dass ich einfach mal tatsächlich mich fadisiere.
    Und für die, die ~NOWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWW~ auch theoretisch durchdringen wollen?
    1972, dem längsten Jahr bisher, 366 Tage und zwei Schaltsekunden, erschien die Studie "The limits of growth" der Wissenschaftlerinnen Donella Meadows, Dennis Meadows, Jørgen Randers und William W. Behrens, beauftragt vom "Club of Rome" zur zukünftigen Entwicklung einer Weltwirtschaft mit begrenzten Ressourcen. Diese Studie basiert auf dem kybernetischen Computersimulationsmodell "World 3", einem der ersten und berühmtesten seine Art.
    Dieses Modell erlaubt die Interaktionen der Systeme Agrikultur, Industrie, Bevölkerung, nicht erneuerbare Ressourcen und Umweltverschmutzung in eine weite Zukunft 100 Jahre plus zu projizieren und somit die möglichen Auswirkungen auf die ökonomische und ökologische Struktur der Zukunft zu prognostizieren. Die Simulation zeigte, dass es bei unverändertem ökonomischen und ökologischen Handeln bis circa 2044, also 24 Jahre ab 2020, 48 Jahre ab 1996 und 72 ab 1972 zu einer massiven Bevölkerungsexplosion, einem Einbruch der Geburtenrate und zu dem Beginn eines enormen Anstiegs der Todesrate kommt.
    Dieses Wissen um eine lebensfeindliche Zukunft, so sollte man meinen, würde die Gegenwart verändern, würde zu einer radikalen Adaption des Umgangs mit dem Jetzt führen. Wie wir jedoch wissen, wurden keine Aktionen gesetzt, die diese düstere Zukunft zu vermeiden halfen. Ganz im Gegenteil, nachdem sich der Ausblick weiter verschärft hat, wird der Umgang mit dem Jetzt, die Ausbalancierung des Jetzt, zu der drängendsten und womöglich einzig relevanten Frage, die man an die unmittelbare Gegenwart und ihre Zukunft stellen kann.

    Das NOW von Thomas Wagensommerer, komprimiert auf 55 Minuten:
    Klangkunst: Aus 5 Sekunden wird 1 Jahr - ~NOWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWWW~
    (Deutschlandfunk Kultur, Klangkunst, 07.02.2020)

    Und hier geht's zum Audiostream: