Wie Holocaust-Opfer die Deutschen sehen

Vorgestellt von Ayala Goldmann · 31.12.2006
Gottfried Wagner und Abraham Peck setzen sich mit einem schwierigen Thema auseinander: Wie sehen Holocaust-Opfer und deren Nachkommen die Deutschen und umgekehrt? In dem Buch haben beide Autoren als Thema ihre jeweilige Familiengeschichte gewählt.
"Gottfried Wagner war eine beeindruckende Gestalt. Er war groß, gut angezogen und hatte eine starke Ähnlichkeit mit seinem Urgroßvater – vor allem, was die typische "Wagner-Nase" betraf. Als er zu sprechen begann, war er offensichtlich sehr nervös... er verurteilte seinen Urgroßvater Richard Wagner wegen seines offen bekannten Antisemitismus und auch seine antisemitische Familie. Das Publikum war in Aufruhr, aber nicht gegen, sondern für Gottfried Wagner. Die Überlebenden standen auf und applaudierten diesem Mann."

So schildert Abraham Peck, Historiker für deutsche Geschichte und Holocaust-Überlebender, seine erste Begegnung mit Gottfried Wagner im März 1991 in den USA. Am Stockton College in New Jersey war der Musikhistoriker und Urenkel von Richard Wagner eingeladen worden, zum Thema "Wagner, wie ich ihn sehe” zu sprechen. Im Publikum saßen viele Kinder von Holocaust-Überlebenden, doch Wagners Wagnis zahlte sich aus. Nach dem Vortrag, bei dem Abraham Peck die erste Frage stellte, saßen sie noch die halbe Nacht zusammen beim Bier. Ihre Freundschaft begann mit einer Meinungsverschiedenheit – denn Abraham Peck konnte mit dem Begriff "Versöhnung", den Gottfried Wagner gewählt hatte, nichts anfangen.

Abraham Peck: "In unserer jüdischen Geschichte und Schriften ist es ganz klar: Nur der Täter und das Opfer können sich versöhnen. Und ich sehe mich nicht als Opfer, und unbedingt sehe ich nicht Gottfried als Täter."

Gottfried Wagner ist 1947 geboren. Seit seiner Jugend beschäftigt er sich mit der Aufarbeitung der Geschichte seiner Familie in Bayreuth. Seine Großmutter Winifred war eine glühende Anhängerin Hitlers, sein Onkel Wieland arbeitete als stellvertretender ziviler Leiter in einem KZ, sein Vater Wolfgang verweigerte ihm das Gespräch - und alle zusammen haben sich seiner Meinung nach nie ehrlich mit ihrem historischen Erbe auseinandergesetzt. Anders Gottfried Wagner, der wegen seiner Kritik zum schwarzen Schaf der Familie erklärt wurde. In Abraham Peck fand er einen Menschen, der ihm zuhörte – und der ihn nicht verurteilte.

Gottfried Wagner: "Ja, Schuld ist ja nicht vererbbar auch für uns. Das ist, glaube ich, ganz entscheidend das zu klären von Anfang an. Das haben wir von Anfang an geklärt, sonst wäre aus dem Dialog ja auch gar nichts entstanden."

"Unsere Stunde Null" ist nicht das erste Buch von Gottfried Wagner über seine Familiengeschichte. 1997 kam seine Autobiografie "Wer nicht mit dem Wolf heult" heraus. Das neue Buch ist eine Ergänzung und Fortschreibung. Darin greift Wagner auch den Dirigenten Daniel Barenboim an, der sich seiner Ansicht nach zu sehr mit dem Wagner-Clan in Bayreuth arrangiert hat.

Gottfried Wagner: "Das Bayreuther Archiv, wissen wir ganz genau, alle wesentlichen Korrespondenzen zwischen Adolf Hitler und der Familie Wagner wurden nach Belieben behandelt, die Entnazifizierung wurde manipuliert ...und wenn man auch als hochgradiger, sensibler und intelligenter Mann wie Barenboim 20 Jahre dirigiert in Bayreuth und um die Dinge weiß, und dann auch wieder eine Wagner-Diskussion führt mit Furtwängler... diese Diskussion finde ich unerträglich."

Was Gottfried Wagner zu einem Dialog mit Holocaust-Überlebenden veranlasst, liegt auf der Hand. Doch warum Abraham Peck? Nach dem Krieg in einem Lager für displaced persons im bayerischen Landsberg geboren, ist Peck Überlebender polnischer Juden. Seine Mutter verlor sieben Brüder und litt nach dem Krieg an massiven Nervenzusammenbrüchen. Und auch sein Vater war schwer geschädigt.

"Oft, wenn er nach seiner Schicht nach Hause kam, spielte ich mit Freunden in meinem Zimmer. Mein Vater kam dann herein und begann, mir vom Lodzer Ghetto und von Buchenwald und vom dem, was er dort erlebt hatte, zu erzählen. Meine Freunde schauten dann mich mit fragenden Augen an: Warum erzählt er uns diese Sachen? Selten, wenn überhaupt, kamen sie wieder zum Spielen."

Als Student und als Historiker begann Peck, sich für die Ursachen der Katastrophe zu interessieren, die so viel Unglück über seine Familie gebracht hatte.

Abraham Peck: "Mir ist von meinen Eltern vermittelt worden: Deutsche sind Nazis, diese Generation und die frühere Generation, die werden sich nicht ändern – es gibt in diesen Leuten so eine Art Bazillus. Ich bin Sohn von zwei einzelnen Überlebenden, beide aus großen polnischen jüdischen Familien, und war immer ein gehorsamer Sohn. A good boy, sozusagen. Aber trotzdem bin ich auch ein selbstständiger Mensch und konnte nicht immer mit meinen Eltern ja sagen zu sagen zu Sachen von denen ich glaubte und wusste, die sind nicht so einfach."

In "Unsere Stunde Null" schildern Abraham Peck und Gottfried Wagner abwechselnd ihre Familiengeschichten – interessante und teils erschütternde Einblicke. Auch die Passagen über den Post-Holocaust-Dialog zwischen Deutschen und Juden der zweiten Generation, und was man dabei falsch machen kann, sind lesenswert. Auf dem Cover des Buches sind Peck und Wagner in Auschwitz zu sehen.

Die Schilderung einer gemeinsamen Reise nach Polen im letzten Teil des Buches ist als Reisebericht wenig originell geschrieben - und der Versuch, die Kinder der beiden Nachgeborenen einzubeziehen, gelang nur teilweise. Dennoch ist "Unsere Stunde Null" ein Buch, das bei den Lesern wieder die Lust wecken könnte, ihrer eigenen Familiengeschichte nachzugehen.


Gottfried Wagner/Abraham Peck:
Unsere Stunde Null
Deutsche und Juden nach 1945: Familiengeschichte, Holocaust und Neubeginn. Historische Memorien

Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar 2006
Gottfried Wagner/Abraham Peck: Unsere Stunde Null
Gottfried Wagner/Abraham Peck: Unsere Stunde Null© Böhlau Verlag