Wie erwachsen sind die Deutschen?

Von Claus Koch · 06.04.2007
Erst letzte Woche wieder, bei Sabine Christiansen, wurde das verstaubte und noch immer halbschicke Thema aufgekocht: Warum blicken die Deutschen so ängstlich in die Zukunft? Warum sind sie so pessimistisch - wo sie doch Export-Weltmeister sind? Warum wollen sie nicht positiver denken?
Gleich daneben liegt der moralische Vorwurf: Die Deutschen sind und bleiben risikoscheu. Soll meistens heißen: Sie legen zu wenig in Aktien, eben Risiko-Papieren an. Was nicht einmal stimmt. Immerhin halten wieder fast zehn Millionen im Land Spekulationspapiere, also Aktien oder Fonds. Die Beschwörung von "German Angst", die vor mehr als zwei Jahrzehnten aufgekommen war, wird vermutlich ein unausrottbares Klischee bleiben. Und es gibt immer wieder deutsche Medienintelligenzler, die sich daran ergötzen können. Woher wollen sie das überhaupt wissen? Die deutschen Medien jedenfalls, in ihrer Mitte das Fernsehen, bringen nicht mehr schwarze Zukunftsszenarien und Hiobsposten als überall sonst in Europa. Sie sind nur oft genauer und ausführlicher, ernsthafter als die anderen. Dauernde Schwarzseherei, gar Panikmache können sie sich gar nicht leisten in diesem harmonie- und spaßbedürftigen Land. Die Einschaltquoten würden bald sinken.

Ja, aber die Umfragen sagen doch, dass ….Ja, was besagen sie? Was besagen ihre Fragen? Wer will da etwas von wem wissen, und warum? Und wer lässt sich überhaupt befragen? Dazu lässt sich gleich etwas sagen: Befragbar über seine Gestimmtheit mit einem Blick auf die Zukunft kann nur eine Minderheit sein. Denn die Mehrheit verfügt über kein eigenes und geprüftes Urteil, über kein informiertes Bild vom gegenwärtigen Zustand und von dem Zustand, den sie zu erwarten hat. Es ist übrigens taktlos, solche Leute zu befragen. Die Umfrage fragt also zum größten Teil ins Leere. Es werden ihr aber auch viele eine Antwort geben, die nichts zu sagen haben und die ein erwachsener und wohl erzogener Mensch normalerweise nicht befragen würde. Viele werden den oberflächlichen Umfragen, die nur aufs Ja oder aufs Nein, aufs Besser oder aufs Schlechter ausgehen, gerade deswegen eine Auskunft geben, weil sie sonst wenig zu sagen haben und sagen dürfen. "Die" Gesellschaft denkt nicht.

Die Frage nach der Gestimmtheit auf die Zukunft ist nicht nur eine indiskrete und rüpelige Frage, man erfährt damit auch nichts Wissenswertes. Ein erwachsener Bürger, der für seine Meinungen und Urteile verantwortlich sein kann, wird sich daher auch nicht befragen lassen. Die erfragte Stimmung stammt zumeist von den Unbedarften. Das wissen auch die Umfrager, aber sie dürfen es nicht wissen wollen. Sie nähmen sich damit sonst die Butter vom Brot. Wer ernsthaft vom Volke etwas wissen will, wird sich also auf die Auskünfte der Umfrage nicht einlassen.

Was zur Frage führt: wie erwachsen sind die Menschen eigentlich in Deutschland, das sich so gerne mit Umfragen abgibt? Diese Deutschen, die einerseits als schunkelfreudig gelten und als humorig, sich selbst auch so sehen, die man andererseits als ängstlich und stets besorgt sieht? Von dieser Frage freilich dürfen und können die Umfrager nichts wissen. Für sie müssen alle gleich erwachsen, also fähig zur eigenen Meinung sein. Gemessen und bewertet werden kann nur der Durchschnitt. Und der wird in seiner Mehrheit von denen gestellt, die keine Ansicht von der Erwachsenheit ihrer deutschen Mitmenschen haben können. Schon deswegen, weil es dafür keinen Maßstab gibt. Man kann nur vergleichen, zum Beispiel: Die heutigen Deutschen kommen mir weniger erwachsen vor als es die zwei oder drei Generationen vor ihnen waren. Vergleichen kann also nur der, der erwachsen ist und früher ältere Erwachsene erleben konnte. Es wird wiederum nur eine Minderheit sein, die eine eigene, eine subjektive Meinung davon haben kann. In ihrer Mehrheit wird sie wahrscheinlich sagen: Ja, vor zwei Generationen waren die Deutschen erwachsener als ihre heutigen Nachfahren. Sie mussten und konnten früher reif sein, sie mussten und konnten schon früher in ihrer Jugend bittere oder gute Erfahrungen mache. Sie ließen sich auch mehr aufladen und mussten mehr Verantwortung tragen als unsere heutigen Zeitgenossen. Sie mussten auch mehr Schuld auf sich nehmen – wir befinden uns jetzt unter den Generationen des Dritten Reichs – weil es eine Schuld gab, vor der keiner ausweichen konnte. Und weil es eine Schuld gab, man sich also für sein Leben rechtfertigen musste, musste man mehr über die Vergangenheit und über die Zukunft nachdenken. Und das macht erwachsen. Unter den Gegenwartsmenschen findet man, so scheint es, nicht allzu viele, denen etwas an einem solchen Erwachsensein liegt. Es kann aber auch sein, dass demnächst mehr Deutsche keine Lust mehr haben aufs ewige Jungsein, auf ein Leben mit beschränkter Verantwortung. Wer sich schon jetzt den Kopf darüber zerbricht, ist auf der erwachsenen Seite. Er kann auf den Ernst des Lebens hoffen.

Claus Koch, in München geboren, studierte Philosophie, Ökonomie und Geisteswissenschaften und war zunächst in einem Wirtschaftsverlag tätig. Seit 1959 arbeitet er als freier Journalist für Presse und Rundfunk, seit 2003 gestaltet er den Mediendienst "Der neue Phosphorus". In den sechziger Jahren redigierte Koch die Monatszeitschrift "atomzeitalter", später war er Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift für Sozialwissenschaft "Leviathan" und Mitarbeiter mehrerer sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen "Ende der Natürlichkeit - Streitschrift zur Biotechnik und Biomoral", "Die Gier des Marktes - Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft" und "Das Ende des Selbstbetrugs - Europa braucht eine Verfassung".
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