Wie eine Reportage aus dem Dreißigjährigen Krieg

03.11.2009
Der erste deutschsprachige Roman von weltliterarischem Rang ist ein schreckensreiches Kriegsgemälde, das bis heute kaum übertroffen wurde.
Als Zehnjähriger erlebt Simplizius, Sohn eines Spessartbauern, wie der Hof seiner Eltern von marodierenden Soldaten geplündert und verwüstet wird: Folter, Vergewaltigung, Mord. Er verbringt Jahre bei einem Eremiten, kehrt als Narr in die Welt zurück, um bald darauf in Frauenkleider zu wechseln und sich zwischendurch als Teufel persönlich auszugeben. Er schuftet als Knecht, tötet als "Jäger von Soest" im Dienst kaiserlicher Truppen und erlebt frivole Abenteuer im "Venusberg", praktiziert als Quacksalber und Gastwirt, bevor er schließlich vom Mummelsee aus eine phantastische Reise zum Mittelpunkt der Erde antritt. Müde all des Elends und der Eitelkeit der Welt, geht Simplizius schließlich zurück in den Wald, um als Einsiedler Frieden zu finden. Denn er ist nicht nur ein Schelm und Haudegen, sondern auch ein frommer, Gott suchender Mann, so sehr in diesem Roman verlogene Pfaffen und Priester und überhaupt die Welt verwüstende Religion der scharfen Satire ausgesetzt werden.

Die erste Übersetzung des "Simplicissimus" in ein gegenwärtiges Deutsch ist Reinhard Kaisers Fassung nicht. In früheren Zeiten gab es viele Versuche der Vermittlung: mal grob kürzend, glättend und entstellend, mal vergleichsweise dicht am Original. Dann machte sich ein gewisser Originalfetischismus breit – und der "Simplicissismus" wurde zur Lektüre für Germanisten mit der (auch in Fachkreisen begrenzten) Lust auf Barockdeutsch.

Vor diesem Hintergrund ist Kaisers Übersetzung, die möglichst viel vom alten Klang bewahren möchte, eine Sensation: ein Hauptwerk der deutschen Literatur wird für die breite Leserschaft zurück gewonnen. Plötzlich ist das sperrige, mit Willenstärke und Wörterbuch durchzuarbeitende Werk ein gut lesbarer Abenteuerroman. Worte und Wendungen haben in drei Jahrhunderten oft den Sinn gewendet. Für viele kaum noch verständliche Formulierungen findet Kaiser aktuelle Entsprechungen, ohne dass dies zu "modernistischen" Verkrampfungen führen würde.

Über weite Strecken liest sich Kaisers Fassung allerdings kaum noch wie ein Schelmenroman. Das kraftvolle Barockdeutsch des Jahres 1668 mit seiner eigentümlichen Mischung aus Schnörkellust und Bildfreude, Umstandskrämerei und Direktheit gibt der wendungsreichen Lebensgeschichte des Simplicissimus ein anderes, komischeres Aroma als der "realistisch" anmutende Stil der neuen Übertragung. Gleichzeitig wird der Blick direkter auf die Geschichte selbst gerichtet, man bekommt sie schlackenlos und aus einer Nähe erzählt, als würde die Übersetzung die Geschehnisse wie durch ein gutes Fernglas heranholen: Leben, Leiden und Sterben in einem jahrzehntelangen Selbstzerfleischungskrieg, der Deutschland um ein Jahrhundert zurückwarf.

Wie der Autor Grimmelshausen wird Simplizius zum Handwerker und Handlanger des Krieges, macht Gewinn, nur um ihn schnell wieder zu verlieren. Knirschend rollt das Rad der Fortuna und begräbt am Ende alle unter sich. Was die – in krassen Details geschilderten – Metzeleien der Schlachten und Beutezüge nicht zerstören und morden, findet durch Neid, Gemeinheit, Spielsucht, Geschlechterkampf, Wollust und sonstige menschliche Eitelkeiten den Ruin. Nichts ist verlässlich, überall wankt der Boden, am Ende läuft jeder entmastet in den Hafen ein. Mit diesem Gefühl totaler existentieller Verunsicherung, das im Gegenzug einen radikalen Genusswillen und eine Skrupellosigkeit des schnellen Glücks befördert, empfiehlt sich der Roman heutigen Lesern in Zeiten der "Krise".

Besprochen von Wolfgang Schneider

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch
Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009
762 Seiten, 49,95 Euro