Wie eine Lehrerin Inklusion erlebt

    Die Belastungsgrenze ist überschritten

    Ein Schulkind steht vor einer Tafel, auf der das Wort "Inklusion" geschrieben steht.
    Was bedeutet inklusive Bildung tatsächlich im Schulalltag? © picture alliance / dpa
    04.05.2017
    Die Bundesländer haben sich verpflichtet, allen Menschen das gleiche Recht auf Bildung zu garantieren. Seither nehmen Regelschulen im Sinne der Inklusion auch behinderte Schüler auf. Wie sehr sich Lehrer damit allein gelassen fühlen, berichtet eine Grundschullehrerin.
    Morgen ist der Tag der Inklusion. Was heißt das an Schulen? Das Recht auf Bildung wurde bis vor einigen Jahren vor allem so garantiert, dass Kinder mit Behinderung oder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in dafür speziell ausgerichteten Förderschulen von ausgebildetem Fachpersonal unterrichtet wurden.
    Diese früher "Sonderschule" und später Förderschule genannten Schulen gibt es auch heute noch. Sie gelten jedoch als Auslaufmodell: Die Entscheidung, an welcher Schule ihr Kind unterrichtet werden soll, liegt bei den Eltern. Und immer mehr entscheiden sich gegen eine Förder- und für eine Regelschule, um ihren Kindern - nach Artikel 24, Absatz 2 der UN-Behindertenrechtskonvention - "gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen zu garantieren". Inklusion.
    Schüler im Klassenzimmer einer Grundschule in Wiesbaden
    Schüler im Klassenzimmer einer Grundschule in Wiesbaden.© imago / MIchael Schick
    So weit, so wichtig, von außen betrachtet. Was Inklusion für Lehrer und Schüler an einer sogenannten Brennpunktschule im Ruhgebiet tatsächlich bedeutet, berichtet die Grundschullehrerin Susanne M.*:
    "Meine Kolleginnen und ich unterrichten an einer zweizügigen Grundschule im Ruhrgebiet mitten in einem sozialen Brennpunkt. Seit einigen Jahren sind wir eine Schule mit Inklusion. Neben Kindern mit einer geistigen Behinderung unterrichten wir an unserer Schule Kinder mit unterschiedlichen Lernschwächen. Die verlangen und brauchen in den beiden ersten Schuljahren eine gezielte Aufmerksamkeit, ehe im dritten Schuljahr eine Diagnose gestellt werden kann.

    Regulärer Unterricht kaum noch möglich

    Dazu kommen Kinder mit emotionaler und sozialer Entwicklungsstörung. Sie sind für eine Klasse eine besondere Herausforderung und können zu einer solchen Belastung werden, dass ein regulärer Unterricht nur noch begrenzt möglich ist. Der Wechsel auf eine Förderschule, die sich ihnen in besonderer Weise zuwenden und sie auffangen kann, ist jedoch nur mit Zustimmung der Eltern möglich.
    Es sei denn, sie haben derart massiv den Unterricht und den Schulalltag durcheinandergebracht, dass sie in hohem Maße als "selbst- und fremdgefährdend" gelten. Doch bis es so weit kommt, wird den Lehrkräften ein beträchtliches Quantum an Geduld und Durchhaltevermögen, den Mitschülern ein Übermaß an Verständnis abverlangt.
    Und schließlich gibt es an unserer Schule noch die Kinder mit Migrationshintergrund, die gezielt gefördert werden müssen. Aktuell kommen die Flüchtlingskinder dazu, die nicht nur besondere Zuwendung, sondern einen elementaren Sprachunterricht brauchen.
    Die niedersächsische Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD, Hintergrund Mitte) sitzt am 27.04.2016 in der Sporthalle der Schule IGS Roderbruch in Hannover (Niedersachsen) während einer inklusiven Sportstunde mit Schülern in einem Kreis.
    Inklusiver Sportunterricht.© Sebastian Gollnow/dpa

    Wie qualitätvollen Unterricht garantieren?

    Alle diese Kinder – wie auch die übrigen Kinder der Klasse - haben einen berechtigten Anspruch auf einen qualifizierten Unterricht, der sich am dafür entwickelten Lehrplan orientiert. Damit sie am Ende des Schuljahres die vorgesehenen Lernziele erreichen können.
    Die Probleme fangen aber schon beim leidigen Thema "Klassengröße" an. Eine Grundschulklasse darf bei zwei Kindern mit geistiger Behinderung "nur" 25 Schüler haben. Bedenkt man, dass die Zahl 25 auch für eine Grundschulklasse ohne Kinder mit einem speziellen Förderbedarf an der Obergrenze für einen individuell ausgerichteten Unterricht liegt, dann erscheint es fast zynisch, wenn diese Zahl als Geschenk "verkauft" wird, um den Lehrerinnen und Lehrern die Inklusion schmackhaft zu machen.

    Lücken in der Lehrerausbildung

    Ein weiteres Problem: Dieser bunten "Klassengemeinschaft" stehen Lehrerinnen und Lehrer gegenüber, die für die Grundschule, die Realschule, die Gesamtschule oder das Gymnasium ausgebildet sind. Mit Fragen der Förderpädagogik sind sie vielleicht einmal in einem Seminar an der Uni in Berührung gekommen – danach oft nicht mehr.
    Unterstützt werden sie im Unterricht von Integrationshelfern, die keine spezielle Ausbildung dafür vorweisen müssen. In Klassen mit geistig behinderten Kindern und auch Kindern mit emotionalem und sozialem Förderbedarf widmen sich die Helfer speziell diesen Kindern und ihrem besonderen Förderbedarf – während der übrige Unterricht weitergeht. Darüber hinaus stehen den Schulen Sonderpädagogen zur Verfügung. Das klingt zunächst einmal gut. Doch die Sonderpädagogen decken nur ein Drittel de Unterrichtsstunden ab. Während der übrigen Stunden ist die Lehrerin/der Lehrer mit dem integrativen Unterricht auf sich allein gestellt. Eine ständige Doppelbesetzung in allen Klassen, in der sich die Lehrerinnen und Lehrer wechselseitig ergänzen, bleibt deshalb ein schöner Traum.

    Schlechte räumliche Ausstattung

    Aus den besonderen Bedürfnissen der Kinder mit Förderbedarf ergibt sich das nächste Problem. Denn die räumliche Ausstattung der Regelschulen hinkt hinterher. Was nutzen künstlerisch gestaltete Flure und freundliche, modern eingerichtete Klassenzimmer - so wichtig sie für das Schul- und das Lernklima sind -, wenn es keinen Rückzugsraum für Kinder gibt, die in einem besonderen Maß auf Ruhe und Entspannung angewiesen sind? Denn da reicht es nicht, den Schulhof zur Ruhezone oder die vielen Klassenräumen angegliederten Sammlungsräume zu Rückzugsräumen zu machen.
    In einer Grundschul-Klasse sitzt ein Junge im Rollstuhl
    In dieser Klasse lernen Schüler mit und ohne Behinderung gemeinsam.© dpa picture-alliance / Armin Weigel
    Die Aufzählung von Problemen bedeutet nicht, dass wir Lehrerinnen und Lehrer in Inklusionsklassen uns nicht unserer Aufgabe stellen. Wir sehen die Probleme nur besonders deutlich, gerade weil wir unsere Aufgabe als Pädagogen ernst nehmen und allen Kindern gerecht werden wollen.

    "Wir werden selbst zum Problem"

    Und wir werden selbst zu einem Problem in diesem Inklusionsprozess, indem wir an unsere Belastungsgrenze stoßen oder schon darüber hinaus sind: durch unseren permanenten Spagat zwischen besonderer personaler Zuwendung und dem Druck, dass vorgeschriebene Anforderungen im Unterricht erreicht werden müssen. Durch ein unzähliges Mehr an Gesprächen mit Eltern, dem Jugendamt, den Sozialamt, dem Schulamt. Und zum Dauerstress mag sich Zorn einstellen, wenn man hören muss, dass es sich bei der derzeitigen Situation um eine reine Verwaltung des Mangels handelt.
    Und hier verkehrt sich der Anspruch der Inklusion mit seiner Garantie auf Bildung in sein Gegenteil: Ohne ausreichende Ressourcen auf allen Ebenen geschaffen zu haben, ist die einzige Garantie, dass sich das System selbst gegen die Wand fährt.
    Das wäre dann ein hoher Preis, den alle Beteiligten und am Ende die Gesellschaft insgesamt zu zahlen hätten.
    *Name geändert (Bearbeitung: mkn)

    Hören Sie zum Thema auch das Interview mit dem Schriftsteller Zafer Senocak und dem Filmemacher Thomas Binn. Binns Dokumentarfilm "Ich.Du.Inklusion - Wenn Anspruch auf Wirklichkeit trifft" kommt heute in die Kinos:
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