Wie der Weihnachtsmann auf das Rentier kam

08.05.2012
Ein Flamingo als Vorbild für den Phönix, ein prähistorisches Nashorn, das zur Zyklopenlegende animierte, und ein Fliegenpilzgebräu, das einen wahrhaft "fliegen" ließ: Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf ist auf der Suche nach den "echten" Vorbildern für zahlreiche Fabeltiere.
Der Evolutionsbiologe und Vogelkundler Josef H. Reichholf ist einer der renommiertesten Naturforscher des Landes. Sein neues Buch, das sich den Fabeltieren widmet, unternimmt einen Brückenschlag zwischen Natur- und Kulturgeschichte: "Einhorn, Phönix, Drache" - was steckt dahinter?

Reichholf geht davon aus, dass die Mythen keine willkürlichen Erfindungen und bloße "Geschichten" waren. Am Anfang jedes Fabeltiers steht ein wirkliches Tier. Erst in der Überlieferungsgeschichte mit ihren Lücken, Ausschmückungen und Übertreibungen werden daraus die phantastischen Wesen, die mit immer mehr Bedeutungen und Subtexten aufgeladen werden.

Geografie, Klimageschichte, antike Naturforschung, theologische Texte - all diese Wissensgebiete zieht Reichholf heran für sein Puzzlespiel. Wenn es gut geht, passen die Teile am Ende zusammen, und wir sehen, etwa als Urbild des Phönix: den Flamingo. Der feuerrote Vogel bewegt sich in den seichten Gewässern von Salzseen, flimmernd in der Hitze des Tages, wo die Temperatur oft weit über 50 Grad beträgt. Wenn die Tiere in der wabernden Luft balzen, "lodern" ihre Hälse wie züngelnde Flammen - ein ganzes Feuermeer, weil Flamingos in riesigen Kolonien auftreten. Der Vogel, der aus der eigenen Asche "aufersteht", wurde zur Christus-Allegorie.

Auch den naturgeschichtlichen Hintergründen der Mythen ist Reichholf auf der Spur. Welche Realitäten stehen hinter den zehn biblischen Plagen Ägyptens (darunter Blutströme und Froschregen), den Tierkreiszeichen oder den Aufgaben des Herkules?

Sogar beim Zyklopen stößt Reichholf auf eine handfeste Realität. In den wärmeren Vorzeiten lebten Nilpferde im Rheindelta und Elefanten im Mittelmeerraum. Die Schädelfunde mögen sich die Menschen später zum einäugigen Riesen zurechtgereimt haben: Ein Elefantenschädel hat mittig in Höhe der menschlichen Augen ein großes Loch für den Rüssel; die kleineren Augenlöcher dagegen liegen weit seitlich und können leicht mit den Ohrlöchern verwechselt werden.

Ein Kabinettstück ist das Kapitel über das Weihnachtstier. Wieso wurden ausgerechnet das lappländische Rentier und ein schlittenfahrende Nomade zu weihnachtlichen Symbolgestalten? Joulupukki, der nordländische Name des Weihnachtsmannes, bedeutet: Julfestmann. Mit dem heidnischen Treiben dieses Festes ist er ursprünglich verbunden. Zur Wintersonnenwende berauschten sich die Schamanen an Fliegenpilzen, die so heißen, weil ihre halluzinogenen Substanzen Flug-Visionen erzeugen können.

Das Problem ist die richtige Dosierung: zuviel kann schnell tödliche Folgen haben. Nun kommt das Rentier ins Spiel, das ebenfalls gern Fliegenpilze futtert, ohne sich zu vergiften. Seine festliche Gabe an die Menschen ist sein Urin, der von den Nordländern als korrekt dosiertes Flug-Gebräu genossen wurde. So gingen Julfest und Rentier eine feste Verbindung ein. Und bis heute sieht unser rot-weißer Weihnachtsmann ziemlich fliegenpilzaffin aus. Aber statt psychedelischer Aufschwünge bietet er nun den Rausch des Warenkonsums.

Reichholfs Sache sind die kleinen Räusche der Erkenntnis. Sein Buch über die Fabeltiere ist locker strukturiert und wirkt an einigen Stellen ein bisschen verplaudert - aber unterwegs fallen, wie immer bei diesem Autor, jede Menge interessanter Beobachtungen, Reflexionen, Einsichten an.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Josef H. Reichholf: Einhorn, Phönix, Drache. Woher unsere Fabeltiere kommen
S. Fischer, Frankfurt am Main 2012
304 Seiten, 19,99 Euro
Josef H. Reichholf ist Professor für Ökologie und Naturschutz an der TU München,
Josef H. Reichholf ist Professor für Ökologie und Naturschutz an der TU München,© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Mehr zum Thema