Wie der Mensch das Werk von Äonen zerstört

17.10.2011
Aus der Vergangenheit lernen, dazu will Tim Flannerys Buch anregen. Er beschreibt, wie die Erde entstanden ist, wie nach und nach eine überlebensfreundliche Atmosphäre geschaffen wurde - und wie der Mensch diese zerstört.
Ein Lebewesen zieht im Weltall seine Runden. Sein Bauch misst tausende von Kilometern, drinnen kocht flüssiger Stein. Die kühle Außenhaut hat sich in Leben verwandelt und bringt unter einem dünnen Zelt aus Luft sich selbst als Millionen von Organismen hervor.

"Gaia" nannte der britische Chemiker James Lovelock Ende der 1970er Jahre seine Idee von der als Ganzes lebenden Erde. In seinem Buch "Auf Gedeih und Verderb" lässt Tim Flannery die mitunter als New-Age-Unsinn verspottete These so mitreißend wie intelligent wieder auferstehen. Er fächert ihre weitreichenden Konsequenzen auf und sucht am Ende Lösungsvorschläge für den "verwundeten Planeten".

Als Wissenschaft der Erdsysteme hat Gaia längst Einzug gehalten in geologische Fakultäten; Lovelocks Grundideen haben sich erhalten, erklärt Tim Flannery: Im Laufe der Evolution wurden lebendige und nicht-lebendige Teile der Erde aufs engste miteinander verschmolzen. So halten die Lebensgemeinschaften der Meere die chemische Zusammensetzung ihrer flüssigen Heimat seit Jahrmillionen mit großer Präzision konstant. Und selbst die großen Stoffumwälzungen im Tiefengestein der Kontinente beruhen weit mehr auf der "stillen Arbeit" von Flechten und Bakterien, als Vulkanausbrüche und Erdbeben ausrichten können.

Aus solchen Beobachtungen schließt der Autor auf seine Grundthese: Die Organismen und ihre Umgebung sind untrennbar miteinander verschränkt - eben auf Gedeih und Verderb. Auf einem lebendigen Planeten organisieren lebende und nicht-lebende Materie, im Wechselspiel miteinander und im Laufe von Jahrmillionen, eine globale Umverteilung: Giftige Schwermetalle und Kohlendioxid werden in den Boden verbannt, die Atmosphäre mit Sauerstoff angereichert. So klein das Leben begann - nach und nach schuf es sich Bedingungen, die immer mehr und vielfältigeres Leben möglich machten.

Erschütternd weiß der Autor zu beschreiben, was heute geschieht: Der Mensch wühlt den Boden auf und reißt Stoffe, die aus gutem Grund dorthin verlagert wurden, in gigantischen Ausmaßen in die Atmosphäre zurück. Dazu führt er mit neu fabrizierten Monsterchemikalien einen "Krieg gegen Gaia", wie es der Autor nennt. Noch vergiften sich in den USA jährlich 42.000 Menschen schwer durch Insektenvernichtungsmittel; von sterbenden Vögeln und sonstigem Getier ganz zu schweigen. Tim Flannery sagt: Wir zerstören das Werk von Äonen.

Auf bewundernswerte Weise gelingt es dem Autor, das Thema Naturschutz so frisch, überraschend und vielfältig zu inszenieren, dass man aus dem Bann der Lektüre gar nicht herauskommt. Von Ameisenhaufen bis Weltwirtschaft - Tim Flannery findet Querverbindungen, zoomt Details heran, schreibt plastisch und denkt visionär. Mehr Weisheit brauchen wir, mehr politischen Willen und die Einsicht zur Umkehr. Auch wenn dem Buch am Ende angesichts der Dummheit und Gier unseres Wirtschaftssystems nicht ganz so viel optimistische Puste bleibt, wie im Vorwort angekündigt - mit Tim Flannery Zeit zu verbringen, ist eine Freude.

Besprochen von Susanne Billig

Tim Flannery: Auf Gedeih und Verderb - Die Erde und wir: Geschichte und Zukunft einer besonderen Beziehung
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Fischer Verlag, Fraunkfurt 2011
363 Seiten, 22,95 Euro

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