Wie aus Jugendlichen Killer wurden

Rezensiert von Bodo Morshäuser · 25.11.2012
Vier Neuerscheinungen über den Rechtsterrorismus in Deutschland beleuchten das Versagen der Behörden angesichts der Mordserie der Neonazi-Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund". Die Autoren sind allesamt Journalisten.
Über ein Dutzend Verfassungsschutzämter und diverse Kriminalämter haben mehr als ein Jahrzehnt lang etwas gesucht, das es nicht gab. Und deshalb haben sie nicht gefunden, was sich nie weit von ihnen entfernt aufhielt: die Täter einer Serie von zehn Morden, inzwischen bekannt als NSU, "Nationalsozialistischer Untergrund".

Die Behörden funktionierten über Sprache. Was nicht Sprache wurde, war für sie nicht wirklich. Sie beobachteten die Sprache von Szeneveröffentlichungen, sie fragten Sprache bei ihren V-Leuten ab. Aber sie kamen nicht darauf, dass es politische Täter gibt, die etwas tun, ohne davon zu sprechen. So fanden sie eine Gruppe nicht, die sich das Motto gab: "Taten statt Worte". Perfiderweise ein abgewandelter Satz aus Goethes "Faust":

"Der Worte sind genug gewechselt, Lasst mich auch endlich Taten sehn!"

Was sich da in den Jahren von 1998 bis 2011 abgespielt hat, das ist Rechtsterrorismus, die Fachleute sind sich einig. Es handelte sich beim NSU um eine kriminelle Vereinigung. Was sich über denselben Zeitraum allerdings auch abgespielt hat, war eine fundamentale Fehleinschätzung durch die gleichen Fachleute. Sie haben die Täter jahrelang in allen möglichen ausländischen Milieus gesucht, nur nicht im deutschen Rechtsextremismus. Jahr für Jahr wurde diese Fehleinschätzung aktualisiert, wurde der Irrtum auf den neuesten Irrtumsstand gebracht. Nach einem Treffen von Rechtsextremismus-Fahndern im Oktober 2003 hieß es:

"Eine Gewalt bejahende Diskussion findet in der rechtsextremistischen Szene zzt. nicht statt. Vielmehr lehnt sie – möglicherweise taktisch motiviert – terroristische Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele nahezu einhellig ab."

Und in einer Broschüre des Bundesamts für Verfassungsschutz aus dem Mai 2005 steht geschrieben:

"Terroristische Vorhaben zur Erreichung rechtsextremistisch motivierter Zielsetzungen werden als kontraproduktiv angesehen."

Zu diesem Zeitpunkt hatte der NSU schon sechs Männer wortwörtlich hingerichtet und einen schweren Sprengstoffanschlag verübt. Aber nicht nur die behördlichen Experten für Rechtsextremismus lagen mit ihren Einschätzungen der Tatmotive völlig daneben. Auch sämtliche Journalisten, die sich mit dieser Sache befasst hatten, kamen nicht auf rassistische Motive. Jahr für Jahr gaben sie artig wieder, was die Behörden ihnen erzählten. Umso befremdlicher wirkt es, wenn der ausgewiesen investigative Journalist Hans Leyendecker im Jahr 2012 in einem der hier vorgestellten Bücher im Vorwort schreibt:

"Spätestens nach den ersten vier Hinrichtungen türkischer Kleingewerbetreibender und dem Nagelbomben-Attentat in Köln im Sommer 2004 in einer Straße mit Geschäften türkischer Kleingewerbetreibender brauchte es allerdings nicht viel Urteilsvermögen, um in diesen Fällen Fremdenhass als mögliches Motiv zu favorisieren."

Die Rolle der Medien in dieser Affäre ist nicht minder peinlich als die der Behörden. Aus der Mitte der bürgerlichen Medien stammte der Begriff "Döner-Morde". Diese vorurteilsfreudige Ahnungslosigkeit ist im Nu durch eine merkwürdige Form der Besserwisserei ersetzt worden. Auch die vier hier vorgestellten Bücher sind von Journalisten geschrieben. Bis auf eines sind sie allerdings frei von unpassendem Auftrumpfen und versuchen uns zu erzählen, was da eigentlich geschehen ist zwischen 1998 und 2011 – und auch in den Jahren zuvor, als die mutmaßlichen Mörder noch unauffällige Schüler waren.

John Goetz und Christian Fuchs nennen ihr Buch "Die Zelle". Sie erzählen die Herkunft des Trios Mundlos/Böhnhardt/Zschäpe aus dem Milieu Jenaer rechter Jugendgruppen. Mundlos ist der Intelligente, Böhnhardt der Brutale, Zschäpe die Nette, die auch zuschlagen kann. In Jena sehen sie sich bald als rechte Elite, sie trinken kaum Alkohol, sie basteln Bomben und gehen gegen betrunkene Skinheads vor. Sie lassen Vorladungen vor Gericht ausfallen und werden deshalb gesucht. Die Fahnder könnten sie 1998 festnehmen, tun es aber nicht, in einem Fall, weil sie bei einer Verfolgung so schnell hätten fahren müssen, dass sie gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen hätten.

Nun befindet sich das Trio im Untergrund. Das heißt: Die drei wechseln von Thüringen nach Sachsen und mieten in Chemnitz eine Wohnung. Für die Fahnder ist das die erste unüberwindliche Hürde. Die drei sind gut vernetzt, sie haben ein halbes Dutzend Helfer, die ihnen Pässe, Krankenkassenkarten und Waffen besorgen. Beate Zschäpe ist zuerst mit Mundlos liiert, dann wechselt sie zu Böhnhardt. Trotzdem bleiben die drei zusammen und bilden zwölf Jahre lang eine Wohngemeinschaft. Als das eigene Geld verbraucht ist, werden Banken überfallen. Ein Jahr später ermorden sie den ersten türkischen Kleinhändler in Nürnberg. Elf Jahre lang arbeiten sie nach diesem Schema: Banküberfall, Mord, Rückzug. Ab 2007 kommen längere Urlaube an der Ostsee hinzu. Immer wohnen sie in Sachsen, sieben Jahre lang in einem Chemnitzer Wohnhaus, von den Nachbarn gemocht. Sie grüßen freundlich und sind höflich. So sieht der Untergrund aus.

"Manchmal ist das Geld der alleinerziehenden Sandra Mayer schneller alle als der Monat, Dann fackelt Beate Zschäpe nicht lange, schnappt sich die zwei Kinder und geht mit ihnen für die nächsten vier, fünf Tage einkaufen. Das Geld für die spontanen Hilfsaktionen will sie nie wiederhaben. ′Sie war schon ne Herzensgute′, sagt Mayer."

Christian Fuchs und John Goetz schreiben die Geschichte des Trios wie einen Roman. Sie konzentrieren sich ganz auf die drei Protagonisten, einschließlich ihrer Gedanken. Für manche Tage wissen sie sogar zu erzählen, wie das Wetter war. Sie berichten nicht viel über die lächerlich umständlichen Behörden, die einfach nicht in der Lage sind zu verstehen, aus welchem Motiv die Morde verübt wurden. Die Gutachten mehrerer Zielfahnder und Profiler nähern sich der Wirklichkeit zwar von Jahr zu Jahr an. Doch wird der für möglich gehaltene Täterkreis immer so eingeengt, dass alle Rasterfahndungen ins Leere laufen. Immer noch sind die Behörden auf Wörter fixiert. Die Täter äußern sich nicht. Die V-Leute sind unergiebig oder halten dicht. Viele Rechtsextremismus-Abteilungen in den Behörden sind verkleinert worden, man konzentriert sich auf islamistische Gewalttäter.

Auch die Journalisten Maik Baumgärtner und Marcus Böttcher konzentrieren sich in ihrem Buch "Das Zwickauer Terror-Trio" ganz auf die drei Täter und ihre dreizehn Jahre, die sie mitten unter uns im Untergrund verbracht haben. Der Unterschied besteht darin, dass die Autoren die Akten studiert haben und von den Problemen der zwei Dutzend Behörden berichten können, die an der Fahndung beteiligt sind.

In Thüringen arbeitet der Verfassungsschutz unter dem aus dem Ruder gelaufenen Leiter Roewer offenbar gegen jede Behörde, die ihren V-Leuten zu nahe kommt, also auch gegen die thüringische Polizei. Das dortige Landeskriminalamt ist nicht weniger ehrgeizig und präsentiert öffentlich Waffenfunde, ohne den Verfassungsschutz zu befragen oder zu informieren. Die Kommunikation der anderen Ämter funktioniert nicht besser. Viele Spuren gehen verloren, weil es Wochen bis Monate dauert, bis Informationen von Amt zu Amt fließen. Nach vier Jahren Fahndung hat die Staatsanwaltschaft Gera eine Vermutung:

"Einer oder mehrere der gesuchten Beschuldigten waren oder sind noch mit großer Wahrscheinlichkeit Mitarbeiter des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz."

Diese Vermutung ist bis heute nicht bewiesen. Es ist auch völlig unklar, ob V-Leute von Verfassungsschützern geführt werden, oder ob V-Leute entscheiden, welches Wissen sie Verfassungsschützern preisgeben. Politiker sagen gerne, man könne V-Leute "abschalten". Irrtum. Ein Nazi, der kein V-Mann mehr ist, bleibt ein Nazi. Und einer, der als V-Mann arbeitet, ist es sowieso. 2009 wird die Sonderkommission aufgelöst, die allein für die Aufklärung der Nazi-Morde eingerichtet worden war. Die Autoren Baumgärtner und Böttcher zitieren die ernüchternde Bilanz der "Soko Bosporus":

"16 Millionen Funkzellendaten, 13 Millionen Transaktionsdaten aus Einsätzen von Kredit- und Debitkarten, zirka 100000 Verkehrsdaten, 300000 Hotelübernachtungen, 600000 Einwohnermeldedaten im Raum Nürnberg wurden überprüft, 80000 Waffenbesitz- und Deliktsdaten gesichtet, 3700 Schützenvereinsdaten angeschaut, 900000 Haftdaten sowie 1 Million Autovermietungsdaten eingeholt. Mehr als 3500 Spuren wurden geprüft und 1500 Ordner mit Ermittlungsdaten angelegt. Erfolglos. Und zwar alles."

Olaf Sundermeyers Buch "Rechter Terror in Deutschland" befasst sich vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse mit den Erscheinungsformen des Rechtsextremismus in Deutschland, wie die Gesellschaft dazu steht und darauf reagiert. Extremismus wird im Behördendeutsch "Politisch motivierte Kriminalität" genannt. Straftaten, die dort eingestuft werden, landen in der Statistik für Extremismus. Und das sind die Kriterien:

"Als politisch motiviert gilt eine Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion,Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet."

Sundermeyer zählt in seinem Buch Mordtaten an Obdachlosen und tödliche Hetzjagden gegen Ausländer auf, die nicht in diese Statistik gelangten. Andererseits: Im vergangenen Jahr suchte der Staatsschutz in Berlin einen Sommer lang politische Autobrandstifter, ohne Erfolg. Am Ende handelte es sich um einen Einzeltäter, der die Feuer, wie er sagte, "aus Frust" legte und nicht aus politischen Motiven. Statistiken über politische Gewalttaten, das lernt man hier, sind kaum aussagekräftig.

Sundermeyers Themen sind der Raumkampf um, wie es heißt, national befreite Zonen, die Infiltration Nationaler Autonomer in die Ultra-Szene von Fußballvereinen, und er beschreibt die Arbeitsteilung der rechtsextremen Szene. Den legalen Arm bildet die NPD, die gewalttätige Bewegung besteht aus den militanten Nationalen Autonomen, und Sympathisanten finden sich in der Mitte der Gesellschaft, wo mehr als zehn Prozent ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben.

Die Strategie der Nazis hat Ähnlichkeit mit der linken Bewegung der sechziger und siebziger Jahre. Auf der Ebene schwerer Gewalt verhält man sich konspirativ wie die RAF. Der erlebnisorientierte Kreis der Nationalen Autonomen hat bei der Antifa-Bewegung gelernt. Im ländlichen nachbarschaftlichen Bereich dagegen gibt man sich mitfühlend sozial und bietet praktische Hilfestellungen an. Wie die Arbeitsteilung der rechten Szene funktioniert, kann man gut beim Thema "Kinderschänder" beobachten. Die NPD macht Wahlwerbung mit dem Spruch "Todesstrafe für Kinderschänder". Zieht ein Sexualstraftäter nach verbüßter Haft an seinen Wohnort zurück, wird dort sogleich, angemeldet durch die NPD, gegen seine Anwesenheit demonstriert – flankiert vom Verständnis der Bevölkerung, von der Bild-Zeitung sowie anderen Boulevardblättern. Nicht nur hier reicht der Arm des Rechtsextremismus locker bis in die Mitte der Gesellschaft.

Die vierte Neuerscheinung zum Thema hat der Journalist Patrick Gensing verfasst. Sein Buch heißt "Terror von rechts". Gensing hatte wohl sowas wie eine Anklageschrift im Sinn. Sein Buch beginnt mit einem irren antifaschistischen Furor. Man merkt sofort: Nun will der Autor Politik und Medien vorführen. Er diffamiert den Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky als Vertreter des Rassismus.

Wer so auftrumpft, der muss sich auch mal genauer anschauen lassen. Wer spricht denn hier? Patrick Gensing arbeitet seit Jahren regelmäßig für "tagesschau.de" und das Fernsehmagazin Panorama. Er zählt also genau zu den Medienleuten, die immer schön nacherzählt haben, was sie von ahnungslosen Fahndern zu hören bekamen. Die Passagen in seinem Buch, die von den NSU-Mördern und ihren Opfern handeln – sie dokumentieren nichts weiter als ein schlechtes Gewissen und dienen allein seiner persönlichen Selbstentlastung. Immer wieder betont er, welche Dokumente öffentlich zugänglich gewesen waren, so dass man die Täter hätte identifizieren können. Leider erzählt er nicht, warum er als Journalist, der an dem Thema arbeitete, diese Dokumente nicht entdeckt hat.

Das Buch ist stellenweise ein Ärgernis. Dabei hat es durchaus einen lehrreichen Kern. Gensing kennt die NPD und analysiert diese Partei brillant. Er beschreibt anschaulich, wie der parlamentarische und der außerparlamentarische Arm der rechtsextremen Szene zusammenarbeiten. Aber gut gemeint ist leider nicht gut genug.

Kommen wir zu den Empfehlungen, die nach der Lektüre dieser vier Bücher gegeben werden können.

Patrick Gensing, Terror von rechts.

Kaufen Sie dieses Buch nur, wenn Sie eine Bestätigung brauchen, dass Sie auf der richtigen Seite sind, dass Sie links sind und den totalen Durchblick haben.

Olaf Sundermeyer, Rechter Terror in Deutschland.

Kaufen Sie dieses Buch, wenn Sie über den Rechtsterrorismus in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten informiert werden wollen. Über den NSU erfährt man nichts Besonderes.

Maik Baumgärtner/Marcus Böttcher, Das Zwickauer Terror-Trio.

Kaufen Sie dieses Buch, wenn Sie eine akribische Chronik der Tätigkeiten des NSU wie auch der Tätig- und Untätigkeiten vieler Ermittler lesen wollen.

Christian Fuchs, John Goetz, Die Zelle.

Kaufen Sie dieses Buch, wenn Sie eigentlich Romane lesen, jetzt aber wissen wollen, wie der NSU zu dem geworden ist, was er wurde, einschließlich mancher Gedanken und Gefühle der Handelnden wie des Wetters an manchen Tagen.


- Maik Baumgärtner, Marcus Böttcher: Das Zwickauer Terror-Trio. Ereignisse, Szene, Hintergründe. Verlag Das Neue Berlin, 2012

- Christian Fuchs, John Goetz: Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland. Rowohlt Verlag, 2012

- Patrick Gensing: Terror von Rechts. Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik. Rotbuch Verlag, 2012

- Olaf Sundermeyer: Rechter Terror in Deutschland. Täter, Opfer und der hilflose Staat. C.H. Beck Verlag, 2012
rezensiert von Bodo Morshäuser
Cover: "Die Zelle" von Christian Fuchs und John Goetz
Cover: "Die Zelle" von Christian Fuchs und John Goetz© rowohlt
Cover: "Das Zwickauer Terror-Trio" von Maik Baumgärtner und Marcus Böttcher
Cover: "Das Zwickauer Terror-Trio" von Maik Baumgärtner und Marcus Böttcher© Das Neue Berlin
Cover: "Rechter Terror in Deutschland" von Olaf Sundermeyer
Cover: "Rechter Terror in Deutschland" von Olaf Sundermeyer© C.H. Beck
Cover: "Terror von rechts" von Patrick Gensing
Cover: "Terror von rechts" von Patrick Gensing© Rotbuch