Wie Abschied das Leben verändert

04.05.2009
Hauptfigur Alice kommt in dem gleichnamigen Buch von Judith Hermann in jeder der fünf Erzählungen vor. Alle Geschichten handeln vom Tod: Alice wird in jeder Erzählung mit dem Verlust eines ihr nahe stehenden Menschen konfrontiert.
Den Ruf von "Sommerhaus, später" wird Judith Hermann vermutlich nie mehr los: dem Kultbuch von 1998, in dem sofort ein Generationsgefühl erkannt wurde: langsam sich ins Erwachsenenleben eingewöhnende Dreißigjährige, denen eigentlich alles zur Verfügung steht und die sich leer und melancholisch fühlen. Die scheinbar einfache Sprache war suggestiv, hier wurde eine spezifische Berliner Szene-Atmosphäre nach dem Fall der Mauer festgehalten, und Judith Hermann wurde zum Popstar.

Das neue Buch von ihr, "Alice", ist deswegen auch ein Medientest, ein Indikator für die irrationalen Schwankungen des Journalismus: Wie wird man darauf reagieren, nachdem ihr zweites Buch, "Nichts als Gespenster" aus dem Jahr 2003, in der Literaturkritik weitgehend verrissen worden ist? Obwohl es genauso oder sogar noch etwas besser war als der hochgejubelte Erstling?

Man erkennt in "Alice", obwohl sich einiges verändert hat, sofort wieder diesen eigentümlichen Judith-Hermann-Sound: zwischen einer charakteristischen Unbestimmtheit der Figuren und einer Hypergenauigkeit der Details hin- und herchangierend, gleichzeitig verletzlich und um eine gewisse Coolness bemüht, ziemlich angreifbar in ihrer Suche nach etwas, was spürbar im Raum steht, aber nur selten zu fassen ist.

Die Sätze sind knapper geworden, oft sogar elliptisch. Es gibt daneben aber auch Aufzählungen, die einen rhythmischen Sog entfalten, und abrupte Rhythmuswechsel: Einzelne Dialogfetzen sind manchmal pointiert in Passagen von indirekter Rede gesetzt - sprachlich und formal ist Judith Hermann zweifellos raffinierter und ästhetisch ausgefeilter geworden.

Neu ist außerdem die Hauptfigur, um die sich die fünf Geschichten zentrieren: Alice kommt in jeder der Erzählungen vor, die als Titel allesamt einen Männernamen tragen. Und sie haben ebenfalls gemeinsam, dass sie vom selben Thema handeln: vom Tod. Durch die verschiedenen Erfahrungen vom Tod macht Alice in diesem Buch auch eine Entwicklung durch, sie setzt sich in paradoxer Manier selber frei.

Die erste Geschichte, "Micha", ist dabei die längste und dichteste: Das Sterben von Micha im Krankenhaus wird begleitet von seiner jetzigen Frau Maja und seiner früheren Freundin Alice. Derlei Dreiecksverhältnisse und Beziehungs-Spiegelungen bilden Leitmotive in diesem Band. Es sind biographische Ausschnitte aus dem Leben von Alice, die zwar nicht als "Roman" bezeichnet werden, aber doch mehrere Facetten zusammenfügen.

Die prägnante, poetische Schilderung der Großmutter etwa geht über das hinaus, was man bisher von Judith Hermann in ihren ausdrücklichen Gegenwarts- und Generationsbeobachtungen gewohnt war. Auch die letzte Geschichte, in der bisher aufgetauchten Personen noch einmal zusammengeführt werden, oder das Bild der Spinne, das in verschiedenen Situationen wiederkehrt, verraten einen auffällig neuen Form- und Gestaltungswillen, obwohl die Eigenart von Judith Hermanns Stil die kurze Augenblicksskizze bleibt.

Das Alleinsein zum Schluss markiert einen vorläufigen Endpunkt in der Entwicklung von Alice. Judith Hermann bleibt mit dieser Figur die Chronistin einer Wohlstandsgeneration, die zusehends irritierter mit ihren eigenen Möglichkeiten umgeht und sich selbst eher ratlos gegenübersteht. Diese Autorin arbeitet mit Suggestion und Atmosphäre, sie vermeidet alle Tricks der Distanzierung, des Zynismus, des augenzwinkernden Bescheidwissens. Dadurch bietet sie einige offene Flanken, und wer sich im Literaturbetrieb durch überlegene Gönnerhaftigkeit oder auch Häme angesichts dieser Erfolgsautorin positionieren möchte, mag die Gelegenheiten dafür suchen. Aber genau das macht auch die merkwürdige Stärke dieser Schriftstellerin aus.

Rezensiert von Helmut Böttiger

Judith Hermann: Alice
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
188 Seiten, 18,95 Euro