"Widerstand hat es nicht gegeben"

Rüdiger vom Bruch im Gespräch mit Frank Meyer · 09.11.2010
Die geringe Bereitschaft zu Widerstand oder "auch nur zu einer sich abgrenzenden Zivilcourage" während des Zweiten Weltkriegs nennt der Historiker Rüdiger vom Bruch eine der Erkenntnisse der Studie über die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
Frank Meyer: Zuletzt war es das Auswärtige Amt, davor Unternehmen oder Verbände wie der Deutsche Fußball-Bund. Von all diesen Institutionen haben wir durch die Geschichtsforschung der letzten 10 oder 20 Jahre erfahren, wie eng diese Institutionen mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen verbunden waren. Jetzt ist eine solche historische Studie über die Deutsche Forschungsgemeinschaft erschienen. Heute ist das die wichtigste deutsche Organisation zur Förderung der Wissenschaft in Deutschland. Der Berliner Historiker Rüdiger vom Bruch war einer der Leiter dieser Studie, jetzt ist er hier bei uns im Studio. Seien Sie herzlich willkommen!

Rüdiger vom Bruch: Ja, vielen Dank! Ich bin gerne hier.

Meyer: Wir haben beim Auswärtigen Amt gerade erfahren, vor wenigen Wochen, wie die Diplomaten einen großen Ehrgeiz gezeigt haben, an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aktiv mitzuwirken. Wie war das bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, wie eng war die verbunden mit dem nationalsozialistischen System?

vom Bruch: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft war als Institution zunächst natürlich nicht automatisch verbunden, es war kein Teil des Nationalsozialismus, aber man muss sagen, zum einen, die Leitung der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Schmidt-Ott, hoch konservativ, autoritär im Grundmuster, autoritär im Typus – war natürlich sehr leicht bereit, sich den neuen Bedingungen anzupassen. Und die DFG, um es abzukürzen, war natürlich genauso nationalsozialistisch, wie es eben die Mehrzahl ihrer Mitglieder waren. Das waren die deutschen Universitätsprofessoren im Wesentlichen oder auch Wissenschaftler in Forschungseinrichtungen, wie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, also der Vorläufer der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. Insofern, von einer spezifisch nationalsozialistischen Organisation kann man bei der DFG nicht reden, aber sie brauchte nicht gleichgeschaltet zu werden, so würde ich es formulieren, weil die Bereitschaft, sich den autoritären, den nationalistischen, ja, teilweise auch schon früh den rassistischen ideologischen Vorgaben und Zwecken des neuen Regimes anzupassen, weil auch in der DFG genauso wenig wie in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Widerstand geleistet wurde gegen die Entfernung, um es neutral auszudrücken, also Entlassung, Vertreibung vor allen von jüdischen Kollegen oder politisch missliebigen Kollegen. Widerstand hat es nicht gegeben.

Meyer: Aber woher kam diese Bereitschaft deutscher Wissenschaftler, sich eben in den Dienst der Nationalsozialisten stellen zu lassen? War das in den 20er-Jahren schon angelegt?

vom Bruch: Der deutsche Professor ist weder in seinem Charakter inhuman, noch ist er besonders human. Man kann auf Wilhelm von Humboldt verweisen. Aber der normale Professor ist ein Wissenschaftler, der in der Regel gerne für sich allein arbeitet. Aber der entscheidende Punkt ist nun: Traumatisierend wirkten für deutsche Professoren, für Wissenschaftler wie für sehr viele andere Kriegsniederlage, Zusammenbruch des Kaiserreichs, eine konservativ-autoritäre Fixierung mit stark liberalem Einschlag wurde nun zunehmend radikal-reaktionär, bei der jüngeren Generation sogar radikal-revolutionär. Und da kamen einige Dinge zusammen. Der Verlust der bisherigen Sicherheiten, materiell, in den Wertorientierungen, finanziell natürlich, in der Achtung in der Gesellschaft und vor allen Dingen die Niederlage des Reiches 1918 hat die Frage provoziert, ob dieses abgeschnittene Reich, das gerade in seiner Wissenschaftskultur vom Ausland abgeschnitten war – es kann eigentlich nur durch wissenschaftliche Arbeit ein Wiederaufstieg erlangen.

Meyer: Das heißt, die deutschen Wissenschaftler hatten ein besonderes nationales Sendungsbewusstsein schon in den 20er-Jahren?

vom Bruch: Ja. Ein nationales Sendungsbewusstsein durch ihre Arbeit, durch ihre Arbeit als Wissenschaftler zum Wiederaufstieg Deutschlands beizutragen. Jetzt muss man, glaube ich, eine ganz wichtige Veränderung nehmen: Vor dem Weltkrieg hat man vor allem der Nation gedient. Nach dem Weltkrieg ändert sich das, man spricht eigentlich nur noch vom Volk. Die Nation tritt in den Hintergrund, die Nation, die gekrönt war durch den Kaiser, jetzt ist ein Parteienstaat, der mehrheitlich abgelehnt wird. Die Parteien werden verachtet, aber das Volk wird zur höchsten Bewertungsgrundlage. Und das prägt die Arbeit dieser Wissenschaftler, weil damit ein Kollektivsingular, das Volk, so in dem Vordergrund steht, dass das Individuum damit zurücktritt und eingeordnet wird. Auch das reicht länger zurück. Wenn Sie daran denken, dass Begriffe wie Menschenmaterial vorher schon während des Weltkrieges gebräuchlich waren oder das: "Die Ausmerzung lebensunwerten Lebens" – eine ganz berüchtigte Schrift von 1918, von einem berühmten Juristen und einem Psychiater –, auch das reicht weiter zurück, aber bekommt nun in der Weimarer Republik eine ganz neue Qualität. Das Volk soll wieder nach vorne gebracht werden, und dazu gibt es weder wissenschaftliche Denkverbote, noch gibt es Verbote, Experimente zu machen, auch an einzelnen Menschen, um diesem Zweck zu dienen.

Meyer: Und diese Fixierung auf das Volk als Kategorie und auch diese Zurückweisung von Denkverboten, war das eine deutsche Spezialität in dieser Zeit, oder gab es das auch in den 20er-Jahren in anderen europäischen Ländern?

vom Bruch: Eine deutsche Spezialität war es so nicht. Ein durchaus vergleichbares Denken werden Sie schon in der Vorkriegszeit finden, wenn Sie sich mal die internationalen Zeitschriften und Handbücher anschauen, etwa im Bereich der Biowissenschaften oder in interdisziplinären Verbünden von Sozialwissenschaftlern, Philosophen und Statistikern, Bevölkerungswissenschaftlern. Eugenik ist ja kein deutscher Begriff, ist ja ein Begriff, der aus Großbritannien importiert wurde, oder eugenisches Denken, also Menschenzüchtung – wobei Menschenzüchtung meint, dass das Volk insgesamt aufgezüchtet wird. Das ist etwas, das finden Sie in Schweden und in der Schweiz und in Großbritannien in ähnlicher Weise, nur nicht eben in dieser radikalen Zuspitzung, wie es die spezifisch deutsche Traumatisierung bewirkt hat.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Historiker Rüdiger vom Bruch über die Studie "Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920 bis 1970", die jetzt als Buch herausgebracht wurde. Sie haben gerade die Menschenzucht angesprochen. Die Menschenversuche der Nationalsozialisten sind ja etwas, was für uns heute besonders unfassbar ist, aber Sie haben in Ihrer Studie auch herausgearbeitet, dass es solche Menschenversuche schon vorher gab, schon in den 20er-Jahren gab.

vom Bruch: Ja, ganz eindeutig, denn es gab keine – was uns heute befremden mag – aber keine ethische Standards im Sinne von anerkannten Selbstverpflichtungen. Das ist erst sehr viel später in der Medizin eingerichtet worden, denn der medizinische Eid des Hippokrates unterband nichtmedizinische Forschung unter Einschluss von Menschenversuchen – wir finden das schon in den 20er-Jahren. Es gibt einen Bereich, der da besonders auffällig ist. Deutschland hatte ja nun keine Kolonien mehr, aber ausgerechnet in der sogenannten Tropenmedizin war das Reich auch nach dem Ersten Weltkrieg tonangebend führend etwa in der Malariaforschung, und da wurden aus ethischer Sicht unverantwortliche Menschenversuche gemacht. Und in der Rechtsprechung, ein bezeichnendes Beispiel: Wenn Sie daran denken, dass die Zwangssterilisierung der Nationalsozialisten als Gesetzesvorlage längst in der Schublade der Weimarer Republik war, aber ohne Zwangssterilisierung, sondern ausgehend von freiwilliger Sterilisierung, dieser kleine Unterschied des Zwanges, das machte die Differenz zum Nationalsozialismus, die für viele der Wissenschaftler aber keine wichtige Differenz mehr war.

Meyer: Was ist jetzt eigentlich im Grundsatz die große neue Erkenntnis, wenn es so was überhaupt gibt, dieser Studie?

vom Bruch: Ja, es sind mehrere Punkte: Das eine ist das Ausmaß, das heißt die extrem geringe Bereitschaft, zu Widerständigkeit oder auch nur zu einer sich abgrenzenden Zivilcourage, das finden wir also sehr selten. Und was uns auffiel, dass wir nicht nur einzelne Gebiete – wir können nicht sagen, das war nur ein Problem der Medizin oder der Agrarwissenschaften, das reichte ja bis weit auch in die Geisteswissenschaften hinein, wenn Sie an den sogenannten Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften im Zweiten Weltkrieg denken.

Meyer: Es gibt ja bei der deutschen Wissenschaft ähnlich wie beim Auswärtigen Amt den anderen aktuellen Fall einer Studie, da gab es ja auch diese Entlastungslegende nach 1945: Wir haben reine Wissenschaft gemacht, mit den Nazis hatten wir gar nichts zu tun. Warum hat im Fall der Wissenschaft diese Entlastungslegende so gut funktioniert?

vom Bruch: Die Wissenschaftler haben geltend gemacht, dass sie verpflichtet alten Humboldt'schen Traditionen nur Grundlagenforschung machen, keine angewandte Forschung, und insofern sei – ob es Menschenversuche waren oder ob es Torpedozünder und Ähnliches waren –, das sei keine genuin-deutsche wissenschaftliche Arbeit gewesen, die schwarzen Schafe hätte man also ausgeschlossen, und hat das dann vor allen Dingen damit doch begründen können, dass die deutsche Spitzenforschung etwa in der Physik, also im Bereich der Nuklearforschung, dass die ja bewusst darauf verzichtet habe, eine Atombombe zu konstruieren, und sich ganz auf Grundlagenforschung konzentriert habe. Also diese These der Grundlagenforschung, womit die deutsche Wissenschaft sozusagen unbeschädigt durch die NS-Zeit durchgegangen sei, das ist wohl eine zentrale Lebenslüge, die erfolgreich geltend gemacht wurde, wo man das hohe Prestige der Wissenschaft, das traditionell in Deutschland besteht, das hohe Prestige der Professoren nutzen konnte. Und dann kam natürlich hinzu die Entlastungs- und Schweigekartelle nach dem Zweiten Weltkrieg, die Schülergeneration, die Enkelgeneration, die ja bis in unsere Gegenwart hinein zum Teil große Probleme hat, die Forschungsergebnisse zu akzeptieren, und von daher mit zur Verzögerung beigetragen hat.

Meyer: Nun ist ja die Deutsche Forschungsgemeinschaft heute eine sehr mächtige Organisation in Deutschland zur Wissenschaftsförderung, die größte europaweit auf diesem Gebiet. Was sind denn für Sie die Lehren aus Ihrer Studie für die Situation heute? Brauchen wir auch heute eine stärkere gesellschaftliche Kontrolle von Wissenschaft zum Beispiel?

vom Bruch: Ein Punkt scheint mir also ganz maßgeblich, dass endlich aufgeräumt wird – und ist auch weitgehend aufgeräumt worden – mit der alten Annahme, dass wissenschaftliche Arbeit die Menschen besser mache, veredle. Ein Wissenschaftler ist genauso ein Mensch mit Schwächen und Stärken wie andere Menschen auch, aber das ist eben ein Punkt, der lange Zeit als ein Dogma galt.

Meyer: Also Wissenschaftler sind keine besseren Menschen. Eine Erkenntnis aus der Studie zur Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920 bis 1970. Jetzt liegt diese Studie als Buch vor, sie ist im Franz Steiner Verlag erschienen. Der Historiker Rüdiger vom Bruch war einer der Leiter dieser Studie. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

vom Bruch: Vielen Dank!
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