Widersprüchliche Welt

19.03.2013
Sein Elternhaus war Treffpunkt der Kulturelite und die Vielfalt der frühen Eindrücke hat Lew Schestows späteres freigeistiges, individualistisches Werk geprägt. "Siege und Niederlagen" versammelt die Ideen des russischen Philosophen.
Lew Schestow war Professor der Philosophie und gelehrter Dilettant - Anfang des 19. Jahrhunderts noch kein schmählicher Titel. Der 1866 in Kiew geborene, russische Denker gilt als Vorläufer des Existentialismus. Sein Stil erinnert, sprachlich wie auch in den Denkfiguren, an seinen bekannteren Nachfolger Cioran. Für beide ist das Bruchstückhafte ihres - im Idealfall aphoristisch zugespitzten - Denkens sozusagen die formale Angleichung an den Gegenstand: Schestow begreift die Welt als in sich widersprüchlich. Sie bildet kein wie immer geartetes Ganzes, und schon gar keine Einheit, ist daher der begrifflichen Vernunft kaum zugänglich.

Nur in der Literatur, beziehungsweise in den Künsten allgemein, findet Schestow den Niederschlag authentischen Lebens. Freilich ist sein Beispielkatalog höchst eng gefasst: Hauptsächlich Shakespeare, Ibsen, Heine und die großen Russen – die sogenannte Moderne ist ihm schon nicht mehr der Rede wert. Und selbst hier lässt eine Skurrilität aufhorchen: Oft scheint Schestow die Aussagen der handelnden Charaktere für heimliche Manifeste des Autors zu halten. Kein Wunder, dass er immer wieder beim Widerspruch als Leitmotiv des Lebens und der Literatur landet.

Den freilich sieht er offenbar als Stärke, wie alles, das uns schwindelig macht:

"Es drängt uns, vom Verstehen wegzukommen, wir wollen den Horror und das Chaos lieben. Ist es Wahn, so hat es doch Methode",

heißt es in Shaekespeares Hamlet, auf den er immer wieder zurückkommt; der Held habe nur negative Züge, sei ein ewig unentschlossener Schwächling, der die Welt zwar aus den Fugen erlebt, sich bekanntlich aber über die starken Gefühle bei Schauspielern verwundert.

Gleich der erste, und längste Essay des Bandes gilt denn auch Shakespeare. Dem "lebensfremden" Zauderer Hamlet wünscht er die Figur Jacques aus "Wie es euch gefällt" "mit seinen knappen und treffenden Erwägungen" an die Seite. Handeln sei gefordert, nicht lähmende Kontemplation. Ein Zug, den er auch an Tschechow (beziehungsweise dessen Charakteren) rügt. Hier klingt wohl die vitalistische Lebensphilosophie an, die in Schestows Jugend gerade Mode war. Alles wäre besser als Hamlets selbstgefälliger, feiger Pessimismus: "Auch Macbeth hat ein Gewissen, ist jedoch bereit, es abzuschmettern …", lobt er. Und schmuggelt immer wieder eine Art existentialistische Programmatik ein:

"Klar ist, dass in Hamlet das Leben erstarrt ist und dass er nur durch eine starke Erschütterung aufgeweckt werden kann. Er ist auf die Tragödie angewiesen."

Auch zum Beispiel wenn Schestow an Heine den "zauberhaften und graziösen Zynismus", also den Durchblick, schätzt, suchen seine Analysen immer die irrationalen Spielräume als Reich der Freiheit:

"Die Vernunft tendiert begierig dazu, den Menschen der Macht der Notwendigkeit zu überantworten",

klagt er die abendländische Philosophie an. Der freie Schöpfungsakt hingegen sei das Markenzeichen des mündigen Menschen: "Der Grundzug allen Künstlertums ist seine totale Willkür". Die Haltung hat ihm seinerzeit so manche Jünger beschert – Camus und Cioran sind nur die bekanntesten.

Besprochen von Eike Gebhardt

Lew Schestow: Siege und Niederlagen. Für eine Philosophie der Literatur
Hrsg. u. aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold
Matthes & Seitz, Berlin 2013
358 Seiten, 39,90 Euro
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