Wider die staatlich verordnete Einheitskultur

Von Jutta Schwengsbier · 07.08.2012
Offiziell verleugnen viele türkische Nationalisten bis heute das multikulturelle und multireligiöse Erbe der Türkei. Doch Wissenschaftler und Künstler arbeiten daran, es wieder sichtbar zu machen - zum Beispiel mit mehrsprachiger Musik auf Türkisch, Kurdisch und Armenisch.
Zum Fest in dem kleinen anatolischen Dorf sind Gäste aus der gesamten Türkei gekommen. Die Arme um die Schultern ihrer Nachbarinnen geschlungen, wippen die Hüften der Tänzerinnen beim Kreistanz wild hin und her. Auf der großen Bühne spielt Kardes Türküler, eine der beliebtesten Musikgruppen der Türkei. Ülker Uncu erzählt, dass sie früher im Folk Club ihrer Universität amerikanische Folksongs oder französische Chansons nachsang. Irgendwann beschlossen dann die Studentinnen verschiedener Fakultäten, gemeinsam Musik zu machen. Ülke Uncu hat Kardes Türküler vor fast 20 Jahren mit gegründet.

"Wir fragten uns, warum wir Lieder in den Sprachen der Welt singen, aber nicht in unseren eigenen Sprachen, den Sprachen der verschiedenen Volksgruppen aus Anatolien oder Mesopotamien. Nach dieser Diskussion ist die Musikgruppe Kardes Türküler entstanden."

In den Dörfern Anatoliens sammeln die Musikerinnen von Kardes Türküler auch Texte traditioneller Lieder, wie sie in der Region gesungen werden. Zurück in ihrem Probenraum in Istanbul mischen sie dann die traditionellen Volkslieder mit einem modernen, urbanen Sound. Doch bekannt ist Kardes Türküler vor allem für den mehrsprachigen Gesang auf Türkisch, Kurdisch und Armenisch. Dadurch wurde Kardes Türküler zwar schnell zu einer der beliebtesten Musikgruppen der Türkei, sagt Ülker Uncu. Aber genau deswegen wurde die Band von den Medien auch lange ignoriert.

"Wir wurden zwar oft von Fernsehsendern eingeladen, wir sollten aber nicht kurdisch oder armenisch singen. Wir sagten, wenn wir das nicht singen, ist es nicht mehr Kardes Türküler. Der Name bedeutet 'Lieder der Brüderlichkeit'. Es war zwar nicht mehr verboten, solche Songs zu singen. Aber private wie staatliche Sender hatten Probleme damit. Jeder wartete darauf, dass ein anderer Sender unsere Musik zuerst ausstrahlt. Alle hatten Angst. Es war Selbstzensur."

Noch in den 1990er-Jahren war es in der Türkei verboten, Kurdisch zu sprechen. Offiziell ist auch heute noch nur Türkisch als Nationalsprache anerkannt. In den Schulen und an den Universitäten werde immer noch gelehrt, dass in der Türkei nur Angehörige der ethnischen Volksgruppe der Turkmenen leben, sagt Ülker Uncu. Dass das nicht stimmt, weiß die 42-Jährige aus ihrer eigenen Familie.

"Meine Familie kam aus Kreta. Die Muttersprache meiner Großmutter war Griechisch. Wir wissen nicht genau, ob sie Griechin war oder eine türkische Muslimin, die auf Kreta lebte."

Ülker Uncu und die anderen Mitglieder von Kardes Türküler gehören zu einer Bewegung, die nach einer neuen nationalen Identität sucht - und der staatlich verordneten Einheitskultur entgegentritt. Die Sängerin Feryal Öney fand Belege dafür, dass in der Türkei früher auch viele Alawiten lebten. Mitglieder dieser islamischen Glaubensrichtung werden von Sunniten nicht als Muslime anerkannt.


"Wenn sie unsere Wurzeln in der Türkei genau ansehen, ist es schwer, jemanden zu finden, dessen Vorfahren nicht mit einer anderen Volksgruppe verbunden sind. Ich habe auch danach gesucht, aber nur Turkmenen gefunden. Ich vermute, meine Familie gehörte ursprünglich zu den Alawiten. Die meisten turkmenischen Volksgruppen unter der osmanischen Herrschaft waren Alawiten. Aber sie wurden gezwungen, Sunniten zu werden."

Nach dem Zerfall des osmanischen Reiches waren die türkische Sprache und der Islam für die Jungtürken unter Kemal Attatürk die wesentliche Basis für ihre Nationalbewegung. Minderheiten wurden brutal unterdrückt. Mehr als eine Million christlicher Armenier trieb man im ersten Weltkrieg aus dem Land. Erst seit einigen Jahren versuchen nun Künstler und Wissenschaftler mit Ausstellungen historischer Postkarten oder durch Bücher mit traditionellen Kochrezepten dieses offiziell geleugnete multi-kulturelle Erbe der Türkei wieder sichtbar zu machen. Das wirkt schon beinahe rührend. Die Sozialwissenschaftlerin Ayshe Gül Altinay hat Familiengeschichten wie jene der Musikerinnen gesammelt, die belegen, dass Millionen Türken armenische Vorfahren haben.

"Eine Geschichte, die mich besonders bewegt, erzählte mir ein 21-jähriger Mann. Er hatte erst wenige Monate vor unserem Gespräch erfahren, dass auch seine Großmutter und sein Großonkel Armenier waren. Der Großonkel hatte seiner Frau bei der Hochzeit nichts davon erzählt. Erst nach 20 Jahren Ehe sagte er zu ihr: "Ich muss dir unbedingt ein Geheimnis verraten. Ich bin eigentlich Armenier." Wissen Sie, was seine Frau antwortete: "Ich auch." Der Schmerz, so ein Geheimnis mit sich zu tragen und die Erleichterung, sich endlich offenbaren zu können, prägt viele der Geschichten in unserem Buch."

Inzwischen gehört die Musik von Kardes Türküler mit ihrem mehrsprachigen Gesang zum festen Programm aller Radio- und Fernsehkanäle in der Türkei. Irgendwann, da ist sich Ayshe Gül Altinay sicher, werden auch die türkischen Schulbücher umgeschrieben. Auch die Regierung wird schließlich anerkennen müssen, dass die Türkei schon immer eine multi-kulturelle Gesellschaft war.

Mehr zum Thema bei dradio.de:
Mönche von Mor Gabriel in Bedrängnis - Türkisches Gericht lässt Ländereien des 1600 Jahre alten Klosters beschlagnahmen
Kultur heute 2012-07-12 - Brunnen der Erinnerung - Wie Armenier und Türken den Krieg um die Wahrheit beenden wollen
Bilder eines Genozids - Armin T. Wegner: "Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste"
Mehr zum Thema