Westliche Expertise für die Post-Gaddafi-Ära

Franziska Brantner im Gespräch mit Marietta Schwarz · 26.09.2011
Soldaten demobilisieren, staatliche Strukturen schaffen, Polizei organisieren: Für diese Aufgaben benötige Libyen Unterstützung aus Europa, sagt die außenpolitische Sprecherin der Grünen im EU-Parlament, Franziska Brantner. Finanzhilfen seien dagegen zweitrangig.
Marietta Schwarz: Der Krieg in Libyen ist noch nicht zu Ende. Aus den letzten Hochburgen der Gaddafi-Anhänger werden Gefechte und Gräueltaten vermeldet. Die Milizen des Übergangsrates kämpfen sich langsam voran. Gleichzeitig gilt es aber auch, einen Staat, eine Regierung von Grund auf neu zu bilden. Keine leichte Aufgabe in einem Land, das 40 Jahre von einem Despoten gelenkt wurde, in dem viele Bürger bewaffnet sind und viele noch eine Rechnung mit jemandem offen haben. Am Wochenende traf sich eine Delegation der Grünen mit den Akteuren vor Ort, aber auch internationalen Organisationen und NGOs. Mit dabei: Die grüne Europaabgeordnete Franziska Brantner. Sie ist gerade aus Libyen zurückgekehrt und jetzt am Telefon. Guten Morgen!

Franziska Brantner: Guten Morgen!

Schwarz: Frau Brantner, nach Ihren Erfahrungen der letzten Tage, was sind die ganz brennenden Probleme in Libyen?

Brantner: Ja, das brennendste ist natürlich, den Krieg zu beenden. Die Gesellschaft ist noch dominiert von den Kämpfen, die da noch stattfinden. Aber davon unabhängig, in den Bereichen, die "befreit" sind, ist die Hauptaufgabe wirklich die Reintegration, Demilitarisierung der Kämpfer. Man hat wirklich momentan eine Schwemme von Waffen überall, da muss man ziemlich schnell dran. Sie haben es gerade eben selber angesprochen, weil wenn man verhindern will, dass Selbstjustiz stattfindet, ist auch das ein wichtiger Punkt. Der zweite wichtige – aus meiner Position heraus – ist wirklich der Aufbau einer Zivilgesellschaft, und da vor allen Dingen auch die Unterstützung von Frauen, und letztlich eben Aufbau von staatlichen Strukturen. Es gibt in ganz vielen Bereichen keinerlei rechtlichen Rahmen außer dem grünen Buch. Da muss man wirklich von vorne anfangen. Aber der Wille ist enorm groß, also die Motivation, Optimismus, Freude sind wirklich beeindruckend. Gleichzeitig herrscht natürlich auch Angst und Unsicherheit über die Zukunft, also eine sehr fragile Situation.

Schwarz: Der Wille ist groß, sagen Sie. Ziehen denn etwa die Mitglieder des Nationalen Übergangsrates an einem Strang?

Brantner: Also momentan ziehen sie bei den meisten Themen noch an einem Strang. Sie versuchen ja gerade, eine Regierung zu bilden – das hat natürlich da auch viel wieder mit internen Machtkämpfen zu tun. Dschibril würde am liebsten Außenminister und Premierminister werden. Da sagen natürlich die anderen Gruppen: Nein, so eine Machtzusammenführung hatten wir schon in der Vergangenheit, das wollen wir auf gar keinen Fall. Dschibril sagt, das ist notwendig, um eben innen und außen zusammenzuhalten. Daran macht sich viel fest, andererseits die Kämpfe auch zwischen den Leuten aus den Bergen, aus den Städten, wer kriegt wie viel Macht in der neuen Regierung zwischen eher – sage ich mal – streng muslimischen und eher liberalmuslimischen Akteuren. Aber momentan scheint es viel an Dschibril zu hängen, und wir hoffen, dass das relativ schnell geregelt wird, aber ich glaube, dass der Druck da größer wird. Also die merken einfach, dass, solange es keine Übergangsregierung richtig gibt, man einfach viele Themen nicht angehen kann, wie den Umgang mit den Gefangenen. Es sind ja sehr viele Söldner, die gefangen genommen wurden. Was macht man mit denen? Den Aufbau von Polizei ... all das ohne eine richtige Regierung ist einfach unglaublich schwierig. Von daher glaube ich, ist der Druck mittlerweile so groß, aber andererseits haben wir da auch eine Aufgabe: Alle haben uns von dem Einfluss von Katar erzählt, dass eben Katar versucht, da sehr viel Macht auszuüben und eher die islamistische Seite zu stärken. Länder wie Frankreich haben ja durchaus auch guten Kontakt zu Katar. Also ich glaube, da müssen wir auch mit dafür sorgen, dass die Kataris eine konstruktive Rolle in der aktuellen Regierungsbildung spielen.

Schwarz: Am Wochenende ist ja auch ein Massengrab mit mehr als 1200 Leichen in Tripolis gefunden worden – Häftlinge des Staatsgefängnisses Abu Salim. Da muss jetzt noch viel Geschichte aufgearbeitet werden, und da sind ja auch natürlich noch viele Rechnungen offen. Sehen Sie denn die Gefahr, dass das Land in Chaos und Gewalt versinkt?

Brantner: Also, sagen wir mal so, ich war überrascht – wir waren auch in Gefängnissen –, war überrascht zu sehen, dass sozusagen die Konditionen einigermaßen okay waren. Das Interessante war, dass die das den Imamen zur Kontrolle gegeben haben, die Gefängnisse, selber mit der Einsicht sagen, wenn wir unsere Jungs dran lassen, dann kommt es zu Gewalt, also doch selber reflektierend zu sagen: Wir wollen nicht, dass das in Racheakte hier ausartet, deswegen geben wir das in die Hand derer, die diese Gewalt nicht ausüben werden. Aber es ist natürlich eine Frage der Zeit. Wenn das, sagen wir, Wochen und Monate dauert, dann ist die Gefahr natürlich da. Deswegen ist, glaube ich, der Zeitdruck da ziemlich groß, weil natürlich alle fragen: Und was passiert mit denen, was ist jetzt der Prozess? Und wenn die Menschen das Gefühl haben werden, es kümmert sich da niemand drum, dass Gerechtigkeit herrschen wird, dass die Justiz aufgebaut wird, dann wird wahrscheinlich die Tendenz zur Selbstjustiz wesentlich größer. Momentan habe ich das Gefühl, es geht noch, dieses Risiko ist da, und wenn nicht schnell gehandelt wird, wird es wahrscheinlich eher ein großes Risiko.

Schwarz: Sie haben bereits die Einflussnahme des Auslands erwähnt. Braucht Libyen von der EU Unterstützung und wenn ja, wie sollte die aussehen?

Brantner: Also, die Unterstützung – alle haben uns wiederholt gesagt: Wir brauchen keine Gelder, wir brauchen Unterstützung im Sinne von Aufbau, von Polizeistrukturen, aber wirklich – was alle auch sagen – wir brauchen Hilfe beim Aufbau von Zivilgesellschaften. Also, dass sie wirklich sagen: Wir müssen wissen, wie das geht – das gab es ja so gut wie gar nicht unter Gaddafi. Die einzigen, die gesagt haben, sie brauchen jetzt Geld, sind die Frauenrechtsorganisationen, die gesagt haben, sie kommen eben nicht an Geld gerade schnell ran. Da, glaube ich, müsste die EU auch mit Geldern helfen, weil es ist wirklich eine sehr heikle Situation. Es gab einen Aufbruch, die Frauen waren sehr aktiv an der Revolution beteiligt, und jetzt hängt es davon ab: Sind sie also in der Position, sich jetzt so zu organisieren, um an dem nächsten politischen Prozess auch teilzunehmen oder werden sie jetzt schon wieder zurückgedrängt? Ich glaube, da könnten wir auch mit Geld helfen, ansonsten eben eher Expertise für den Aufbau von Polizeisystemen, von auch Grenzsystemen, da erst mal sei eher unsere Expertise gefragt als unser Geld.

Schwarz: Momentan scheint besonders das Interesse an Handelsbeziehungen mit dem reichen Staat groß zu sein. Die an den Kriegshandlungen beteiligten Nationen wie Frankreich und Großbritannien werden nun bei Geschäften mit Libyen bevorzugt. Also hat in dieser Situation überhaupt jemand Interesse an einem geschlossenen europäischen Vorgehen?

Brantner: Na ja, was mich übrigens zu dem wer hat jetzt Einfluss überrascht hat, dass uns alle gesagt haben: Ja, auch Chinesen und Russen können dann ja kommen, wobei die ja eigentlich auch nicht so eine positive oder unterstützenden Rolle gespielt haben – fand ich auch ganz interessant. Also ich glaube, die sind da relativ pragmatisch in Libyen. Eine geschlossene Rolle der EU, ich glaube, die einzelnen Mitgliedsländer merken schon auch, dass wenn jetzt zig Akteure einzeln versuchen, dort den Staat aufzubauen, dass das nicht funktionieren wird, also wenn jeder irgendwie versucht, hier etwas wie Polizei aufzubauen, dass das nicht wirklich zum Erfolg führen wird. Und da, glaube ich, ist der Druck schon da, weil man wird auch nicht wirtschaftlich arbeiten können in einem Land, das nicht irgendwie wieder zur Ruhe kommt und Strukturen bekommt. Von daher glaube ich, ist das Bewusstsein da, aber natürlich, ich glaube, die Lehre der Franzosen aus Libyen ist eher, besser nicht gemeinsam agieren und alleine agieren. Das ist leider wahrscheinlich eine traurige Lehre aus dem Libyen-Konflikt.

Schwarz: Wirtschaftsminister Rösler hat einen Zehnpunkteplan vorgelegt, mit dem die Beziehungen zwischen Deutschland und Libyen angekurbelt werden sollen. Halten Sie das für einen richtigen Vorstoß?

Brantner: Na, ich glaube, dass es natürlich schon richtig und wichtig ist, dass Deutschland jetzt versucht, auch wieder aktiv zu werden, zu zeigen – ja, natürlich, die fehlende politische Unterstützung in der Vergangenheit soll jetzt nicht im Raum stehen, aber die Skepsis ist da natürlich da, wobei natürlich alle offiziellen libyschen Akteure auch sagen, dass sie sich auf die deutsche Unterstützung freuen. Aber man merkt den Unterschied, wir waren ja da, sage ich mal, eine europäische Delegation, wir waren Franzosen, Belgier, ich als Deutsche. Und wenn man gefragt wurde, wo kommen Sie denn her, dann war die Freude sehr groß, wenn man gesagt hat, aus Frankreich – aus Deutschland, haben sie gesagt, ach so, guten Tag! Also man hat den Unterschied gespürt, von daher glaube ich, ist das schon richtig und wichtig, dass Deutschland sich da jetzt auch engagiert, aber eben nicht nur alleine und im Alleingang, sondern hauptsächlich würde ich mir wünschen, europäisch, koordiniert mit den Partnern, dass man da an einem Strang zieht und eben nicht jeder vor sich hin köchelt und jeder auf seine eigenen Interessen schaut, sondern dass man eben versucht, es wirklich für die Libyer aufzubauen, und nicht nur nach seinen eigenen Interessen schaut

Schwarz: Franziska Brantner, außenpolitische Sprecherin der Grünenfraktion im Europaparlament war das. Frau Brantner, Herzlichen Dank für das Gespräch!

Brantner: Ich danke Ihnen!

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