Wertedebatte

"Man tut den Schweizern ein bisschen Unrecht"

Michael Naumann im Gespräch mit Susanne Führer · 11.02.2014
Das Bürgervotum in der Schweiz gegen Einwanderung hat in Deutschland Entsetzen ausgelöst. Dabei sei es keinesfalls so, dass die Bürger in Deutschland durchgängig tolerant sein - die Betroffenheit in Deutschland wirke daher selbstgerecht, meint Publizist Michael Naumann.
Susanne Führer: Wie tolerant sind die Toleranten? Es gibt ja eine öffentliche Meinung im Sinne von veröffentlichter Meinung. Da ist man für Toleranz, für gleiche Rechte für alle, gegen Rechts, gegen Homophobie, gegen Rassismus. Gut! Sind wir das nicht alle? - Offenbar eben nicht. Schließlich gibt es die anderen, die dagegen sind, dass über sexuelle Vielfalt im Unterricht gesprochen wird - siehe Baden-Württemberg), es gibt das Referendum in der Schweiz, das Quoten für Zuwanderung fordert. Lohnt es sich überhaupt, mit denen zu diskutieren, oder sind die alle bescheuert? Der deutsche SPD-Politiker Ralf Stegner zumindest wetterte ja nach der Volksabstimmung in der Schweiz: "Die spinnen, die Schweizer." Am Telefon ist nun der Publizist und Direktor der Barenboim-Said-Akademie Michael Naumann. Guten Morgen, Herr Naumann.
Michael Naumann: Guten Morgen, Frau Führer.
Führer: "Die spinnen, die Schweizer." – Ganz schön selbstgerecht?
Naumann: Nein. Das ist ja ein klassisches Asterix-Zitat und insofern siedelt Stegner diese Debatte genau auf dem Comic-Niveau an, auf dem diese ganze Debatte um diese Schweizer Abstimmung eigentlich geführt werden sollte.
Führer: Na ja, er hat noch weiter getwittert: "Geistige Abschottung kann leicht zur Verblödung führen."
Naumann: Das ist korrekt. Dem kann man eigentlich nichts hinzufügen. Er selbst: Wenn er das den Schweizern vorwirft, dann halte ich das in der Tat für überzogen, milde gesagt.
Führer: Ich will jetzt nicht die ganze Zeit über Ralf Stegner diskutieren, aber ich finde, er ist so ein bisschen symptomatisch für eine Haltung, die einigermaßen selbstgerecht daher kommt.
Naumann: Ach, wissen Sie, Sie haben in Ihrer Anmoderation völlig richtig darauf hingewiesen, dass es unterschiedliche Meinungen gibt in jeder gut organisierten, pluralistischen, demokratischen Gesellschaft, und selbstverständlich gibt es auch Mainstream-Meinungen. Da sind natürlich die führenden Medien mit verantwortlich, weniger, glaube ich, dass Deutschlandradio Kultur, sondern vor allem die großen Zeitungen, also "Bild", und das Fernsehen. Es werden dann in diesen öffentlichen Diskussionen gewissermaßen Leitplanken dessen, was tolerabel sei und was nicht, gezogen, und das verfestigt sich manchmal und plötzlich entsteht dann ein Bild von dem, was Sie richtig gesagt haben, was ist tolerabel und was ist nicht tolerabel. In Wirklichkeit ist diese Diskussion auch der Schweiz das relativ komplexe Ergebnis von, ich möchte es mal so nennen, Identitätsfindungen von Gesellschaften in intellektuellen, geistigen, auch wirtschaftlichen und ähnlichen Notlagen oder eingebildeten Notlagen, und dann kommen plötzlich Ergebnisse heraus wie in der Schweiz, wo sich der Rest Europas an den Kopf fasst und sagt, wie können die nur. Aber wir vergessen alle, dass in der Schweiz der Anteil der Ausländer, der ausländischen Mitbewohner …
Man kann sich leicht den Heiligenschein des pluralistisch gesinnten Demokraten aufsetzen
Führer: Bei fast einem Viertel liegt!
Naumann: Ja, bei 20 Prozent. Das heißt mit anderen Worten, stellen Sie sich mal vor, was in Deutschland los wäre, wenn wir diesen Anteil hätten. In anderen Worten: Man tut den Schweizern ein bisschen Unrecht und sich selbst kann man dann leicht den Heiligenschein eines pluralistisch gesinnten Demokraten setzen, der sich von den Schweizer Usancen des Plebiszits vorteilhaft abhebt, und das ist natürlich ungerecht. Das muss ich sagen.
Führer: Sie haben von Meinungsstreit gesprochen. Das ist ja nicht mein Punkt. Eine Meinung zu haben, einen Standpunkt zu vertreten, das sollte unbedingt sein und auch engagiert. Aber es wird ja in dem Moment problematisch, wo die einen meinen, dass ihre Meinung nicht nur richtig ist, sondern auch noch moralisch höherwertig ist.
Naumann: Das ist insofern eine interessante Frage, als natürlich selbstverständlich alle Streitigkeiten, die um so zentrale Themen wie Recht, Gerechtigkeit, Freiheit und Ähnliches gehen, auch Minderheitenrechte, selbstverständlich immer auch einen moralischen Kammerton haben und haben müssen. Es gibt keine wertfreie Diskussion über Freiheit. Es gibt keine wertfreie Diskussion über Recht, denn Recht selbst setzt ja Werte. In anderen Worten: Man soll sich ruhig daran gewöhnen. Und dass es dann moralische Überlegenheitsgefühle gibt, die gibt es dann eben und da muss man dagegen andebattieren. Nur vor einem sollte man sich hüten, nämlich vor einer Art Monopolisierung der jeweils eigenen Moral in einer politischen Diskussion. Das hat es in Deutschland bekanntlich öfter gegeben, auch in jüngster Zeit. Es ist keineswegs so, dass wir so eine hypertolerante Gesellschaft sind, sondern es kann auch recht ruppig zugehen. Ich erinnere an die Sarrazin-Debatte. In anderen Worten: Eine Vorstellung, dass es eine politische Kultur gibt, eine politische Öffentlichkeit gibt, in der wertfrei und ohne moralischen Unterton diskutiert wird, die ist meines Erachtens falsch oder, um nicht zu sagen, naiv. Aber man sollte sich nicht daran stören, sondern im Gegenteil mit eigenen besseren Argumenten gegen die der jeweils anderen andiskutieren.
Führer: Über Toleranz und deren Grenzen spreche ich mit dem Publizisten Michael Naumann, der jetzt außerdem der Direktor der Barenboim-Said-Akademie ist. Herr Naumann, Sie haben von Werten gesprochen. Natürlich geht es um Werte. Aber die Frage ist ja auch, wie sehr man dann seinen eigenen Werten folgt. Gerade diejenigen, die das Wort Respekt sehr schnell im Mund haben, Respekt für Migranten, für Homosexuelle und so weiter. Wo bleibt der Respekt für diejenigen, die Angst haben vor Migranten und vor Homosexuellen? Kann man dann einfach sagen, ihr seid zurückgeblieben, ihr habt es noch nicht gerafft? Dann haben wir ja diesen Sarrazin-Effekt, plötzlich eine Million verkaufte Bücher von "Deutschland schafft sich ab".
"Wertedebatten in Deutschland sind oft genug empirisch schwach"
Naumann: Ja, Frau Führer, da haben Sie recht. Mit anderen Worten: Sie haben aber ein richtiges Stichwort in die Debatte geworfen, nämlich Angst. In dem Augenblick, in dem zum Beispiel in der Frage der Anwesenheit von Migranten in Deutschland mit Angst, mit Begriffen wie kultureller Überfremdung und Ähnlichem debattiert wird, und man versucht, auch diese zu erzeugen, dann wird es wirklich gefährlich. Kurzum: Sowohl diejenigen, die Leuten wie Sarrazin vorwerfen, er würde Angst mobilisieren und auf Angst setzen, wie auch diejenigen, die sagen, er übertreibt völlig, beiden ist eigentlich folgendes zuzumuten. Erstens: Herr Sarrazin, der selber zugegeben hat, dass er überhaupt keinen Türken kennt - das fand ich schon sehr überraschend -, sollte man sagen, ja dann reden Sie doch mal mit den Leuten, über die Sie so fleißig statistisch arbeiten. Und denjenigen, die sagen, der Mann übertreibt völlig, denen empfehle ich dann doch, sich einmal mit dem Problem derjenigen auseinanderzusetzen, deren Kinder in Klassen gehen, in denen 90 Prozent der Schüler, der Erstklässler kein Deutsch können. Also in anderen Worten: Diese Wertedebatten in Deutschland, die von den verschiedensten Seiten geführt werden, sind oft genug empirisch schwach, und da empfiehlt es sich dann doch für beide Seiten, übrigens auch wenn wir über die Schweiz reden, sich mit den Fakten zu beschäftigen.
Führer: Aber die Frage ist ja trotzdem: Wie weit geht es dann wiederum? Es gibt ja jetzt zum Beispiel schon einigen Aufschrei im Internet, weil heute Abend bei Sandra Maischberger der Petent dieser Petition in Baden-Württemberg zu Wort kommen wird, und manche publizistische Kollegen, die dann schreiben, okay und demnächst werden wir dann mit Nazis über Antisemitismus diskutieren im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Naumann: Ja, das ist natürlich verrückt. Erstens muss man inzwischen leider auch – das sage ich gewissermaßen altersberaten – über zwei verschiedene Podien der öffentlichen Diskussion sprechen. Das eine ist das Internet, das ist in weiten Teilen geprägt durch Blitzschnell-Meinungen, so eine Art Nescafé-Effekt, es wird was aufgegossen und reingeschrieben, …
"Es ist die Stunde der großen Abrechnung gekommen"
Führer: Und schmeckt dann nicht!
Naumann: … plus einem absolut vulgären Unterton, und auf der anderen Seite dann die klassischen traditionellen Podien, dazu zählen natürlich die Zeitungen und auch Sendungen wie diese. Ich persönlich ziehe es inzwischen vor, die Kommentare, die im Internet zu lesen sind zu Artikeln, nicht mehr zu lesen. Ich habe dasselbe auch beobachtet, unter anderem ein interessantes Phänomen. Hier widerspreche ich mir ein bisschen. Ich habe natürlich die Kommentare zu den Artikeln über Alice Schwarzer gelesen. Was da an Hass emporquillt gegen die Person Schwarzer, nicht so sehr die Steuerhinterziehung, sondern es ist die Stunde der großen Abrechnung gekommen, dieser Tonfall, der ist unangenehm und der ist meines Erachtens spezifisch für die Ad-hoc-Meinungsäußerungen, die schnellen im Internet.
Führer: Gut, Herr Naumann. Aber kommen wir noch mal zurück zu der Rolle und der Verantwortung der Journalisten in diesem Fall. Die Frage war ja jetzt gerade: Darf ich zum Beispiel Nazis in eine Talkshow einladen? Ich entsinne mich: In Frankreich hat man jahrelang Le Pen ausgegrenzt, heute liegt der Front National bei über 20 Prozent. Das hat es irgendwie nicht gebracht? Ausgegrenzt in dem Sinne, dass man ihn nicht ins Fernsehen, in Talkshows hat eingeladen.
Naumann: Um die Wahrheit zu sagen: Wenn Sie von Nazis reden und nicht von rechtsgesinnten Diskutanten, sondern richtige Nazis, dann würde ich sagen, nein, denen gebe ich kein Forum mehr. Dazu sind die Wunden und die Narben viel zu tief, die diese Gesinnung in die deutsche Gesellschaft geschlagen hat. Das ist keine Frage der Toleranz mehr, sondern auch eine Frage der Vernunft. Muss man Menschen, die Rassisten sind – ich rede von Nazis oder Neonazis -, ein öffentliches Podium geben? Nein, man muss nicht. Die können sich ihr eigenes schaffen. Hingegen wenn es darum geht, zum Beispiel in der Debatte, darf man in der Schule auf das Phänomen von Homosexualität hinweisen oder nicht, selbstverständlich sind das Debatten, die im Fernsehen geführt werden können und sollten, und es wäre absurd, Vertretern, die eine etwas konservativere Einstellung haben, hier eine Art Maulkorb vorzuschreiben oder gar umzuhängen.
Führer: Ich mache hier schon mal ein kleines Teasing vorab. Wir senden nämlich um elf Uhr ein Interview mit dem iranisch-französischen Regisseur Mehran Tamadon und der hat einen Film gemacht, in dem er, ein Atheist und Regime-Gegner, zwei Tage lang mit vier streng gläubigen Regime-Anhängern diskutiert, in einem Haus zusammen lebt, und wird dafür interessanterweise nicht nur vom Regime angegriffen, er hat große Schwierigkeiten bekommen, sondern auch von den Leuten seines Milieus. Und er sagt, es ist doch ein großer Erfolg, wenn man schon mal miteinander spricht. Vielleicht ein weises Schlusswort, Herr Naumann?
"Die Diskussion selber ist das Vernünftige"
Naumann: Ach ja, wissen Sie, hinter dieser Frage und auch hinter dieser These steckt ja eine Überzeugung, die wir alle brav teilen, nämlich dass in der Diskussion am Ende die Wahrheit emaniert. Das ist leider nicht der Fall.
Führer: Aber schon mal miteinander zu sprechen, statt sich nur zu hassen, ist in manchen Gesellschaften ein Fortschritt.
Naumann: Das ist absolut ein Fortschritt. Nur man darf nicht davon ausgehen, dass offene Diskussionen über alles und über jedes Problem automatisch dazu führen, dass etwas Vernünftigeres im gesellschaftlichen Zusammenleben entsteht. Die Diskussion selber ist das Vernünftige.
Führer: Vielleicht bringt man sich dann aber nicht mehr gegenseitig um.
Naumann: Das ist richtig, Frau Führer.
Führer: Vielen Dank. – Das war Michael Naumann, der Direktor der Barenboim-Said-Akademie. Schönen Tag noch. Tschüß!
Naumann: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema