Werte

"Wir sind alle noch sehr sowjetisch"

Wladimir Putin und Patriarch Kirill, Oberhaupt der russisch-orthodoxe Kirche.
Wladimir Putin und Patriarch Kirill, Oberhaupt der russisch-orthodoxe Kirche © picture alliance / dpa - Maxim Shipenkov
Von Gesine Dornblüth · 25.08.2014
Mit der Annexion der Krim hat Russland einen europäischen Konsens gebrochen, nämlich, Grenzen nicht mit Gewalt zu verschieben. Es setzt auf das Recht des Stärkeren. Bereits in den letzten Jahren war zu beobachten, wie Minderheiten in Russland unterdrückt werden, Andersdenkende verfolgt werden. Wie kommt es, dass die Menschen in Russland, das uns literarisch und kulturell doch so nahe scheint, offenbar so andere Prioritäten setzen?
Der alte Arbat, das Herz Moskaus. Der Musiker trägt Bart und einen Strohhut. Asiatische Touristinnen ruhen sich mit Wasserflaschen in der Hand auf Bänken aus. Auf den ersten Blick wirkt alles wie in nahezu jeder europäischen Metropole. Doch über den Dächern ist die Spitze des stalinistischen Außenministeriums zu sehen, der Sowjetstern. Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Aleksandr Archangelskij sitzt in einem der Cafés und trinkt grünen Tee.
"Wir haben immer noch das sowjetische Erbe in uns. Als 1977 der Satz in die sowjetische Verfassung aufgenommen wurde, es sei eine neue historische Gemeinschaft entstanden: Das sowjetische Volk – da haben wir darüber gelacht. Aber es stimmte. Diese Gemeinschaft hatte und hat spezifische kulturelle, psychologische und soziale Züge: Paternalismus, Ablehnung persönlicher Verantwortung, ein historischer Minderwertigkeitskomplex und die Bereitschaft, das eine zu denken und das andere zu tun. Das hat sich bis heute erhalten. Jeder macht sein Ding, aber wenn die Krim annektiert wird, sind alle dafür."
Die Bedeutung von 70 Jahren Sowjetunion für die Menschen kann man gar nicht hoch genug einschätzen, meint auch die Kunsthistorikerin Jelena Nemirowskaja. In ihrem Wohnzimmer tickt eine Wanduhr. Die Bücherregale reichen bis unter die Decke. Auf dem Klavier steht ein Blumenstrauß.
"Wir sind alle noch sehr sowjetisch. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, aber die sowjetische Mentalität. Und in der gibt es keine Moral. Dieser amoralische Zustand, in dem sich alle befinden, ist der Punkt, der mich am meisten enttäuscht und den wir hinter uns lassen müssen. Aber bisher weiß niemand, wie."
Keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung
Das Grunddilemma aber, sagt Jelena Nemirowskaja, sei älter als die Sowjetunion:
"In der Geschichte Russlands gab es keine Renaissance, keine Reformation, keine Aufklärung in dem hohen Sinne, wie sie in Europa stattfand. In Russland gab es keine öffentlichen Diskussionen. Und bis heute ist niemand an öffentliche politische Diskussionen gewöhnt."
Natürlich gab es auch schon in früheren Jahrhunderten diverse Versuche, Russland zu reformieren. Doch alle mussten scheitern, aus verschiedenen Gründen, so Nemirowskaja.
"Peter der Große hat sehr viel für die Modernisierung Russlands getan, aber nur äußerlich, das war die Imitation einer Modernisierung. In Wirklichkeit hat er über die Orthodoxie und über andere staatliche Instrumente die Anfänge von so etwas wie freiem Denken noch stärker unterjocht.
Deshalb haben die Adligen sich Katharina entgegengestellt, als die das Land modernisieren und die Leibeigenschaft aufheben wollte.
Was gemacht wurde, wurde spät gemacht. Und dann hat die russische Intelligenzija diese ganze Diskussion zwischen Slawophilen und Westlern zerredet, und so war alles für die Katz. Auch im 19. Jahrhundert haben nicht alle begriffen, was das Spezifische am Westen ist."
Russland hat die Leibeigenschaft erst 1861 abgeschafft.
Der Streit zwischen Slawophilen und Westlern, zwischen Anhängern eines eigenen, slawischen Weges, und eines europäischen Russlands, war ein Elitendiskurs. Er prägt Russlands Geistesgeschichte über Jahrhunderte. Die Westler konnten sich nie durchsetzen. Das lag gar nicht mal daran, dass die Slawophilen so stark waren, meint der Schriftsteller Archangelskij. Es lag – wie heute – an der Trägheit der Masse.
"Die Slawophilen war damals auch eine Minderheit. Die Mehrheit aber war gar nicht denkend. Es gibt Andersdenkende und Garnichtdenkende. Westler und Slawophile waren abgegrenzte intellektuelle Zirkel, sie haben nur eine winzige Schicht erreicht. Deshalb hat keiner den anderen auf seine Seite gezogen."