Werke eines unvergleichlichen Künstlers

Von Volkhard App · 07.10.2010
Das Bucerius Kunst Forum in Hamburg zeigt 150 Werke von Marc Chagall. Für die Ausstellung hat das Israel-Museum in Jerusalem erstmals seine Sammlung des Künstlers für eine Ausstellung in Deutschland zur Verfügung gestellt.
Der Großvater, der auf dem Dach sitzt und Mohrrüben kaut, der Maler an der Staffelei, verträumte Musiker und die vertrauten Häuser der weißrussischen Heimat: Sie alle finden sich in Chagalls Autobiografie "Mein Leben” - die schon in den frühen Zwanzigerjahren geschrieben und dann mit Radierungen ausgestattet wurde. Sie ist plausibler Ausgangspunkt einer Ausstellung, die in verschiedenen thematischen Abteilungen den Motiven und Lebenslinien des Künstlers folgt.

Ein Selbstbildnis zeigt ihn mit einem Haus auf dem Kopf: Zweifellos brachte er seine Heimat Witebsk als reiche, innere Welt mit in das fremde Paris, in dem die Moderne florierte. Ortrud Westheider, die Direktorin des Bucerius Kunstforums:

"Man muss sich vorstellen, dass Chagall 1910 in eine Pariser Atmosphäre kam, in der Künstler wie Gauguin in die Südsee fuhren und Picasso nach außereuropäischen Inspirationsquellen suchte. Chagall aber brachte das Fremde mit."

1909, vor seinem Pariser Aufenthalt, hatte er sich noch in altmeisterlicher Manier mit Samtbarett, ironischem Lächeln und drei selbstbewusst vor die Brust gehaltenen Pinseln gemalt. "Ich bin sicher, dass Rembrandt mich liebt”, schrieb der junge Chagall. Die Begegnung mit den Innovationen der Moderne aber hinterließ deutliche Spuren auf seinen Werken:

"Man spürt, wie er sich mit dem Kubismus auseinandersetzt, ohne aber ein Epigone zu werden. Da gibt es die Zergliederung von Formen, das simultane Zeigen von zwei Profilen, die ineinander verschlungen sind und wir sehen starke Farben, die er vom Fauvismus übernommen und weiterentwickelt hat - ein Künstler, der anderen Künstlern wie Picasso sofort ins Auge fiel und dem Kunstkritiker Apollinaire, der über diese Bilder gesagt hat, sie seien surnaturel, also surreal, übernatürlich."

Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte stellte er sich immer wieder als Künstler dar, auch mal mit sieben Fingern an der Hand:

"Es basiert auf einem jüdischen Sprichwort, das besagt: Wenn man es mit sieben Fingern macht, macht man es richtig, mit Herz und Seele sozusagen. Sie spielen an auf ein Selbstbildnis, auf dem er sich aber nicht nur mit sieben Fingern zeigt, sondern auch den Kopf unter dem Arm trägt. Solche Motive stehen für die Ungebundenheit des Künstlertums: er proklamiert gleich zu Anfang seine Freiheit und seine herausgehobene Existenz."

Auf seinen Bildern ist Vieles möglich: der leuchtend rote Kopf einer Kuh erscheint riesig über dem Schtetl und nähert sich der Mondsichel, eine Laterne will die Straße überqueren, eine Pendeluhr hat Engelsflügel und über der Seine schweben ein grünes Fabelwesen und eine Frauenfigur mit Kind, die auf einem violetten Hahn sitzt. Und die geliebte Frau Bella hat sich beim Spaziergang weit in die Lüfte erhoben und kann von dem Maler gerade noch an der Hand festgehalten werden.

Dieser Liebe und künstlerischen Partnerschaft ist eine eigene Abteilung gewidmet. "Sie war meine Muse. Der Inbegriff von jüdischer Kunst, Schönheit und Liebe. Wenn sie nicht gewesen wäre, wären meine Bilder nicht so wie sie sind”, so formulierte Chagall, der auch Bellas Erinnerungsbücher "Brennende Lichter” und "Erste Begegnung” illustrierte. Diese Blätter gehören zum Kern der aus dem "Israel Museum” in Jerusalem nach Hamburg gereisten Sammlungsbestände.

Die dargestellte leidenschaftliche Beziehung zu Bella war sicherlich Modell für alle Liebespaare, die dann jahrein jahraus auf Chagalls Bildern der Schwerkraft trotzten. Die Bewegung durch die Lüfte ist aber nicht immer Ausdruck überirdischen Glücks, sondern kann - wie bei dem wiederkehrenden Juden mit Rucksack - auch das Entwurzeltsein bedeuten. Kurator Michael Philipp:

"Da hat Chagall einen sogenannten Luftmenschen dargestellt. Das ist eine Selbstbeschreibung, die aus der jiddischen Literatur kommt und sie bezieht sich auf den typischen Einwohner des Schtetls, der von der Hand in den Mund lebt. Diese Selbstbeschreibung wurde dann aber sehr bald zur Grundmetapher des jüdischen Menschen in der Moderne - desjenigen, der nirgendwo verwurzelt ist und immer bedroht wird von Ausweisung und Verfolgung."

Der schon in seiner Heimat erfahrene Antisemitismus und, Jahrzehnte später, die Verfolgung der Juden durch die Nazis wurden zu zentralen Themen seiner künstlerischen Arbeit. Philipp:

"Wir haben zum Beispiel das Bild ‚Exodus’ aus dem Jahr 1948 in der Ausstellung. Dort findet sich wie auf anderen Werken das Symbol des Gekreuzigten, dargestellt sind auch eine Mutter, die ihr Kind zu retten versucht, ein älterer Jude, der die Thorarolle birgt, eine vergewaltigte Frau, die tot am Boden liegt, viel Zerstörung ist zu sehen und ein Schiff mit Flüchtlingen sowie ein Schornstein, aus dem der rote Feuerschein wie in Auschwitz leuchtet. Auch das hat Chagall gemalt."

Solche Werke relativieren den Eindruck von einer allzeit lieblichen, allzu gefälligen Kunst, der sich in vielen Köpfen festgesetzt hat. Lebenslinien eines unvergleichlichen Künstlers: Es ist zunächst nicht so einfach, sich in dieser Schau zu orientieren, eben weil sie thematisch geordnet ist und nicht streng der Chrononologie und stilistischen Entwicklung folgt.

In jedem Fall aber wird der Besucher durch außergewöhnliche Exponate angezogen: von großformatigen Stadtlandschaften, erotischen Gemälden in grellen Farben, verspielten autobiografischen Blättern und späten Zeichnungen zu Motiven aus der Bibel: Da schwebt König David durch ein himmlisches Blau und Moses erhält die mächtigen Gesetzestafeln.