Wer weiß schon, dass Hühner tanzen

10.03.2011
Don lebt mit seiner lieblosen und hysterischen Mutter und seinem ebenso sturen wie stillen Vater in einem Farmhaus mit vielen Hühnern. Weil er einsam ist, freundet er sich mit den Hühnern an.
Der Titel macht neugierig! Umso mehr, als Hühner jeder Art im Kinder- und Jugendbuch schon öfters für Spaß und Unterhaltung gesorgt haben. Jacques Couvillon erzählt von Don, der elf Jahre alt, rothaarig, ängstlich und in der Schule ein Außenseiter ist, aber auch schlau und ein sehr genauer Beobachter.

Don lebt mit seiner egozentrischen, lieblosen und hysterischen Mutter und seinem ebenso sturen wie stillen Vater in einem Farmhaus mit vielen Hühnern. Weil er einsam ist, freundet er sich mit den Hühnern an, studiert sie förmlich und bekommt eines Tages als jüngster Gewinner den ersten Preis beim Hühner-Wissens-Wettbewerb, in dem es darum geht, Hühner kenntnisreich zu klassifizieren.

Womit sich sein Leben schlagartig ändert. Nicht nur, dass Don plötzlich ungeheuer beliebt ist und mit dem Verkauf von Eiern Geld verdienen kann. Er stößt auch auf eine Serie von Familiengeheimnissen. Eine tote Schwester, verschwundene Großeltern und ein Liebhaber der Mutter tauchen auf, dazu eine Unmenge Lügen und Konflikte. Dons Hühnerliebe ist in dieser chaotisch-verrückten Geschichte noch das Normalste.

Der Junge erzählt selbst, was er erlebt, in der Ich-Form und in einem bewusst lakonischen Ton, der das turbulente Treiben ironisch bricht. Er redet den Leser direkt an, spricht mit ihm, weil sich ja sonst niemand mit ihm unterhält. Ganz nah dran sind wir an seinen Gefühlen und Gedanken, seiner Verunsicherung und seiner Abgeklärtheit, an seiner Naivität wie an seiner Sehnsucht nach Liebe. Don ist eine anrührende Figur, weil er so verlassen und zugleich so unergründlich positiv ist.

"Chicken Dance" ist ein hochkomisches und trauriges Buch zugleich. Ein wunderbar beschwingter Roman voller skurriler Figuren und absurder Situationen, voller witziger Szenen und spritziger Pointen. Und auch eine melancholische Geschichte über eine einsame Kindheit, lieblose Eltern, eine gescheiterte Ehe und ein Familiendrama, das nicht länger unter den Teppich zu kehren ist. Jacques Couvillon hält die Balance zwischen lustig und schwierig, positiv und problematisch. Ihm ist die Gratwanderung gelungen, seine Leser zugleich zu unterhalten und zu bewegen.

Während der Adler in der europäischen Mythologie für Freiheit und Stärke steht, symbolisieren die Körner pickenden Eierproduzenten das domestizierte Haustier. Wer weiß schon, dass Hühner tanzen – siehe "Chicken Dance" – wenn sie gefüttert werden. Sie sind lustig und liebevoll und ersetzen Don vorübergehend die Familie.

Wie nebenbei erfährt der junge Leser noch eine Menge mehr über Hühner, ihre Farben und Rassen, Hühnerfutter und Hühnerverstand. Gerade so viel, dass er begreift, was für interessante Tiere das sind – und dass der gesunde Hühnerverstand manchmal größer ist als der Menschenverstand. Wenn die Geschichte am Schluss noch einmal eine unerwartete Wendung nimmt, die alles in ein völlig neues Licht taucht, dann wird spätestens klar, dass die Menschen sich hier verhalten wie verrückte Hühner. Ein komisch-kluges Debüt von einem Autor, den man sich unbedingt merken muss!

Besprochen von Sylvia Schwab

Jacques Couvillon: Chicken Dance
Roman
Aus dem Amerikanischen von André Mumot
Bloomsbury Verlag, Berlin 2011
336 Seiten, 16,90 Euro, ab 14 Jahren