Wer ist Lotse - wer ist Mörder?

08.04.2008
Warum wurde der beliebte Yacht-Konstrukteur Erik umgebracht? Seine Schwester Janne Flecker beginnt Nachforschungen anzustellen und traut bald niemandem mehr - weder der Polizei noch ihrer Familie.
Blaufeuer ist ein maritimer Begriff: Ein Nachtsignal, das zur Anforderung eines Lotsen gegeben wird, bezeichnet man so. Im übertragenen Sinn und auf den Roman gemünzt benötigt die Heldin Janne Flecker auch einen Lotsen, denn sie ist in einer beklemmenden Situation orientierungslos geworden. Dasselbe gilt für ihren Vater, den Besitzer einer Werft in Cuxhaven.

Janne Fleckers Bruder Erik ist grausam im Wattenmeer nahe der Elbmündung ums Leben gekommen, und schnell wird klar: es war Mord. Aber niemand kann sich vorstellen, wer ein Interesse daran gehabt haben könnte, den beliebten und erfolgreichen Yacht-Konstrukteur umzubringen. Es kommt der Verdacht auf, dass der Anschlag eigentlich Paul Flecker, dem Vater des Toten gegolten haben könnte. Der nämlich hat sich im Laufe seines Lebens zahlreiche Feinde geschaffen.

Kurz nach der Beisetzung Eriks erleidet Paul Flecker allerdings einen Schlaganfall, der ihn für lange Zeit auf die Intensivstation bringt. Da sie den Ermittlern der Polizei nicht traut, macht sich Janne Flecker selbst auf die Suche nach dem Mörder. Nebenbei muss sie – eigentlich zweite Geigerin an der Berliner Philharmonie – auch noch die Geschicke der Werft lenken.

Bei ihren Nachforschungen ergeben sich bis zum Schluss aber nur vage Hinweise. Allerdings fällt ein Schatten auf die hoch angesehene Familie Flecker. Plötzlich werden auch auf Janne Flecker Anschläge verübt. Offen und geradeheraus verhalten sich nur noch die Besucher einer Kneipe namens Blaufeuer und ein langjähriger Vertrauter ihres Vaters, Birger Harms. Doch am Ende traut Janne Flecker überhaupt niemandem mehr über den Weg, und das ist vielleicht ihre klügste Entscheidung.

Was im ersten Moment klingen mag wie eine norddeutsche Variante vom "Denver Clan" ist ein unerhört subtiler Roman einer jungen Autorin. Geschickt bewegt sich Alexandra Kui im norddeutschen Milieu unter rückständigen Kleinstädtern, die untereinander noch eine Menge Rechnungen offen haben. Ohne jede Effekthascherei ist ihr ein bis zum Schluss spannendes Buch geglückt, das vor allem sprachlich überzeugt.

Alexandra Kuis Sätze sind schnörkellos und manchmal fast auf eine musikalische Weise schön. Überhaupt scheint der Roman regelrecht durchkomponiert zu sein. Während die Form des Romans durchgängig klassisch bleibt, führt Alexandra Kui in den meisten der Kapitel eine hochinteressante Ebene ein, die dem Leser einen weiteren Zugang zu dem bis zum Ende gut gehüteten Geheimnis der Geschichte eröffnet: Es ist die gedankliche Sicht des im Koma liegenden Paul Flecker, der bestrebt ist, seine Vergangeheit mit den Geschehnissen der Gegenwart in Einklang zu bringen.

Keine Angst, diesen Kniff setzt die Autorin vollkommen ohne sprachliche oder inhaltliche Platitüden um! Diese Ebene ist es auch, die aus einer Kriminalgeschichte ein bemerkenswertes Buch macht und gleichzeitig eine tiefe Verbeugung vor der Heimat der Autorin und ihrer liebenswert-schroffen Bewohner bedeutet.

"Blaufeuer" ist mehr als eine spannende Kriminalgeschichte; der Roman ist zwar kein Entwicklungsroman, erhält aber eine ähnliche Tiefe durch die Fragen, die sich die Heldin des Buchs über ihr Leben stellt. Alexandra Kui rackert einerseits in der fiktiven Geschichte einer Familie herum, weil man mit leisen Tönen nicht immer weiter kommt, an anderen Stellen lässt sie ihre Heldin fast lethargisch werden, dort, wo ein Hau-Ruck erst recht nicht dienlich wäre.

Das Buch ist keines, das man auf den Schoß sinken lässt, weil man innehält, um mit eigenen Lebenserfahrungen zu vergleichen. Der Roman stellt wichtige Fragen vielmehr ganz direkt: Kann man einem Menschen misstrauen und ihn zugleich lieben? Welches Recht hat man auf Selbstverwirklichung, wenn man Gefahr läuft, vertraute und geliebte Menschen zu verletzen? Ist es völlig verkehrt, eine Fassade aufrechterhalten zu wollen? Und schließlich: Was bleibt von einer geachteten Familie übrig, wenn ein Unglück die gesamte Loyalität zwischen den Familienmitgliedern in Frage stellt?

"Blaufeuer" hat nur eine Schwäche: Die letzten 20 Seiten. Wenn jemand so hinreißend und packend über kriminelle Energien, über eine komplizierte Vergangenheit, über einen verschrobenen Menschenschlag und über eine scheinbar intakte Familie schreiben kann, sollte man meinen, dass die Geschichte auch anders hätte aufgelöst werden können. Sicherlich ist eine Auflösung immer Geschmackssache, weil sie alle anderen Möglichkeiten, Verdächtigungen und auch Hoffnungen verwirft, aber das Romanende ist – leider! – haarsträubend banal.

Alexandra Kui wurde 1973 in Buxtehude geboren. Sie studierte in Hamburg und schrieb für verschiedene Tageszeitungen, bevor sie ihren ersten Kriminalroman veröffentlichte. Heute lebt sie als Autorin, Musikerin und Journalisten bei Hamburg. "Blaufeuer" ist ihr viertes Buch.

Rezensiert von Roland Krüger

Alexandra Kui: Blaufeuer
Hoffmann und Campe, Hamburg 2008
317 Seiten, 16,95 Euro