Wenn Literatur Realität absorbiert

09.06.2011
Gute Literatur spiegelt "Stimmungen" der Zeit. Ein Buch von Houellebecq oder Hemingway etwa transportiert ein Lebensgefühl, ein existentielles Aroma. Mit solche atmosphärischen Qualitäten der Literatur beschäftigt sich nun der Philologe Hans Ulrich Gumbrecht.
Gute Literatur spiegelt "Stimmungen" der Zeit. Ein Buch von Houellebecq oder Hemingway etwa transportiert ein Lebensgefühl, ein existentielles Aroma. Der Leser lässt sich davon berühren und faszinieren – so wie Musik in Schwingung versetzt. Solche atmosphärischen Qualitäten der Literatur, in denen sich objektivierbare kollektive Stimmungslagen niederschlagen, hat die Literaturwissenschaft bisher vernachlässigt. Aus gutem Grund: Sie sind schwer begrifflich dingfest zu machen.

Der Philologe Hans Ulrich Gumbrecht ist jetzt ins Neuland der "Stimmung" aufgebrochen. Der zumeist trocken-akademischen Beschäftigung mit Texten in der Literaturwissenschaft will er Frische und Unmittelbarkeit zurückgewinnen. Deutlich ist sein Unbehagen an den Theorien der Dekonstruktion, die nicht nur Interpretation als "Sinnzuschreibung" in Frage stellen, sondern überhaupt die Fähigkeit von Literatur, außersprachliche Wirklichkeit zu repräsentieren. Gumbrecht will nicht glauben, dass Texte als Zeichensysteme vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Mit "Stimmung" hat er den Schlüssel zur Verbindung von Subjektivem und Objektivem gefunden: die "substantielle Präsenz von Vergangenheit" im Text. Literarische Werke, aber auch Lieder oder Gemälde (ein Kapitel beschäftigt sich mit Caspar David Friedrich) können Stimmungen und damit "Realität" buchstäblich absorbieren.

Natürlich weiß Gumbrecht um die Gefahren solcher Thesen für die akademische Reputation – und zitiert in der Einleitung erst einmal sicherheitshalber Hegels Warnungen vor dem "Brei des Herzens", bevor er in exemplarischen Essays Stimmungsqualitäten von Werken und Epochen vorführt. Dabei will er vor allem zeigen, wie sich habitualisierte Stimmungen in literarischen Formen niederschlagen: So bringt er den nervösen Ton bei Walther von der Vogelweide in Verbindung mit politischer Instabilität; den frühen spanischen Schelmenroman sieht er in seinen Mechanismen komischer Desillusion geprägt von einer Grundspannung zwischen Alltagserfahrung und religiöser Orthodoxie. In der Romantik war die nostalgische, ganzheitssehnsüchtige "Stimmung" Ausdrucksform des Protests gegen die Kälte der Moderne.

Eine Renaissance des Stimmungsbegriffs ereignet sich dann in der Existenzphilosophie der 20er-Jahre, gipfelnd in Heideggers Lebensgefühl der "Geworfenheit". Sehr prägnant ist Gumbrechts Essay über das "tragische" Lebensgefühl der 20er-Jahre, das sich nach "Entschlossenheit" und "Taten" sehnte und damit keine Ziele, sondern eine bestimmte Konzeption der Existenz meinte: inselhafte Sinnerfahrungen im weiten Meer des "Uneigentlichen". Hier, in diesem Porträt einer Epoche zwischen Sachlichkeit und Ekstase, wird deutlich, was gute Stimmungsanalyse leisten kann. Eine Portion "Brei des Herzens" findet sich dagegen im schwärmerischen Beitrag über Janis Joplins Song "Me And Bobby McGee", in dem der Autor eher das Lebensgefühl seiner eigenen Jugend beschwört.

Gumbrecht skizziert ein großartiges Projekt über die "verdeckte Wirklichkeit der Literatur". Die meist knappen Essays bieten allerdings erst Kostproben einer zukünftigen Literaturwissenschaft der "Stimmungen".

Besprochen von Wolfgang Schneider

Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur
Hanser Verlag 2011
184 Seiten, 17,90 Euro