Wenn Kinder psychisch krank sind

Mama, es geht mir so schlecht

29:53 Minuten
Ein jugendliches Kind sitzt in einem roten Kapuzenpullover mit dem Rücken zum Betrachter auf einer Wiese. Im Hintergrund ist ein Plattenbau zu sehen.
Savanna zog sich immer mehr zurück, redete kaum, war tieftraurig: "Und ich hab’s so hingenommen, weil ich dachte, das ist normal." (Symbolbild) © imago images / Thomas Eisenhuth
Von Carina Schroeder · 19.11.2020
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Schule, Freunde oder ihre Hobbys: All das wurde für Savanna nebensächlich. Die heute 15-Jährige griff zu Alkohol, verletzte sich selbst. Sie brauchte dringend Hilfe – und ging freiwillig in eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
"Ich habe mich zurückgezogen, obwohl ich selbst wusste, das hättest du gar nicht machen müssen", erzählt Savanna. "Du hättest einen anderen Weg gehabt, den zu gehen, und du hast es nicht gemacht. Du, du bist im Endeffekt selbst dran schuld, dass es soweit überhaupt erst gekommen ist."
Savanna hat sich diesen Namen ausgedacht, will anonym bleiben. Sie ringt am Esstisch um jedes einzelne Wort, erlaubt sich kleine Denkpausen, um nicht die Fassung zu verlieren. Selbst die Tränen bleiben nur in den Augen stehen, keine darf über das Gesicht der 15-Jährigen kullern.

"Ich bin selbst dran schuld"

"Meiner Meinung nach, und da ändert sich meine Meinung nicht, bin ich selbst dran schuld", sagt sie.
Schuld an ihrer Krankheit? Schuld, dass sie schwieg? Frage ich mich. Ich treffe Savanna das erste Mal. Es ist April 2020. Vorher hatten wir nur einmal kurz miteinander telefoniert. Jetzt sitzen wir in der Dachgeschosswohnung eines Plattenbaus am östlichen Rand Berlins. Und wollen reden über Savanna und ihre seelische Gesundheit.
Ihre Eltern sitzen mit am Tisch. Sie begegnen mir sehr herzlich. Und trotzdem bekomme ich schnell mit: Mir schaut Savanna beim Erzählen in die Augen, während sie ihren Eltern nur kleine Seitenblicke zuwirft.
"Ja, dass dann angefangen hat, dass ich Alkohol konsumiert habe - und das über einen längeren Zeitraum und öfters. Dann fing das auch mit der Selbstverletzung an - und auch mit Gedanken, Suizidgedanken."

Übelkeit, Erbrechen und Schmerzen im Bauchbereich

Um zu verstehen, was mit Savanna passiert ist, müssen wir ein Jahr zurückspulen: Anfang 2019.
"Ich hatte anfangs mehrere Symptome wie Übelkeit, Erbrechen. Konnte viele Sachen nicht mehr essen. Schmerzen - sehr im Bauchbereich. Und ich bin dann von Arzt zu Arzt: MRT, Blutabnahme, Sonografie, Krankenhäuser und so weiter", erzählt sie.
Schule, Freunde oder ihre Hobbys - all diese Dinge wurden nebensächlich für Savanna. Die Schmerzen und die vielen Arztbesuche überdecken alles. Im November 2019 wird schließlich eine chronische Blinddarmentzündung entdeckt. Nach der Blinddarmoperation sind die körperlichen Schmerzen zwar weg, an ihre Stelle treten seelische.
Savanna zieht sich immer mehr zurück, redet kaum, ist tieftraurig: "Und ich hab’s so hingenommen, weil ich dachte, das ist normal. Man ist nun mal so. Manchmal und vor allem auch in so einem Alter und als Jugendlicher. Aber dann wurde es halt schon schlimmer, und das hat sich alles gehäuft, dass ich dann irgendwann gemerkt habe: Okay, irgendetwas ist nicht richtig, das ist nicht nur traurig sein, sondern mehr."
Irgendwann entdeckt Savanna den Alkohol für sich. Jeder Schluck hilft gegen die Traurigkeit, jeder Rausch beim Vergessen. Auch die Eltern bemerken, ihre Tochter verändert sich. Anfang 2020 kommt sie schließlich mit einem großen Pflaster am Arm nach Hause.

Großes Pflaster am Arm – ein Schock für die Mutter

"Das erste Mal als sie hier mit dem Pflaster stand und ich sie dann darum gebeten habe, dieses abzumachen und mir zu zeigen, da war es ein Schock", erzählt die Mutter. "Weil es definitiv ersichtlich war: Oh, ich hab mich beim Rasieren geschnitten, sondern das sah wirklich nach Absicht aus. Der nächste Moment ist natürlich, was müssen wir jetzt tun? Ich muss dem Kind ja irgendwie helfen. Da scheint irgendwas ja nicht in Ordnung zu sein, sonst würde sie das ja nicht machen."
"Bist du vielleicht auch ganz froh", frage ich Savanna", dass deine Schwester und deine Mutter das gesehen haben? Also in dem Moment war das sicher überhaupt nicht schön, aber es hat dich so ein bisschen gezwungen, was zu sagen?"
"Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht", sagt sie. "Aber, wenn ich so zurückblicke, ich glaube schon. Auch wenn ich mich sehr gezwungen gefühlt habe, also gezwungen, jetzt zu reden und was zu sagen, auch wenn ich es nicht wollte. Das war für mich auch einfach sehr schlimm und auch sehr emotional und traurig, es einfach auch übers Herz zu bringen, es seiner Familie, seinen geliebten Menschen zu erzählen."

Sechs Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Schnell wird klar: Savanna braucht dringend Hilfe. Freiwillig geht sie in die Vivantes Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Stationär. Für sechs Wochen. "Ich habe zwei Diagnosen bekommen. Das ist einmal die Diagnose ADHS und die hauptsächliche ist die Diagnose Depression, eine mittelgradige, depressive Episode", erzählt sie.
Außenansicht eines historischen Gebäudes des Vivantes Klinikums Neukölln.
"Ich habe zwei Diagnosen bekommen": Im Vivantes Klinikum Neukölln war Savanna in stationärer Behandlung.© imago images / Schöning
Ich besuche die Vivantes Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Neukölln, möchte mir ansehen, wo Savanna Hilfe gesucht hat. Und ich lerne: Durchschnittlich 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland zeigen einmal während ihres Aufwachsens Verhaltensauffälligkeiten und psychische Probleme.
Um die sechs Prozent von ihnen sind schwer krank, leiden unter Depressionen, Essstörungen oder Angststörungen. Und das so schlimm, dass sie eine Behandlung in einer Einrichtung brauchen.
Es ist ein großes Gelände, alle Gebäude sind rot geziegelt. Auf der Karte sind 40 Gebäude ausgeschildert, darunter auch das Mutter- und Kind-Zentrum. An ein Krankenhaus erinnern nur die Ärzte in den weißen Kitteln, die mir entgegenkommen. Innen erinnert die Vivantes Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie eher an eine alte Schule mit kleinen Klassenzimmern.
Chefärztin Yonca Izat führt mich durch die Klinikräume: "Das ist nämlich unser Auszeitraum, unser Ruheraum und der ist sehr schön. Weil der gepolsterte Wände hat, kann man hier drinnen mit einem Ball werfen."

Wichtig ist, die Diagnose zu verstehen

In ihrem Büro angekommen schweift Yonca Izats Blick während unseres Gesprächs immer wieder zur Uhr an der Wand, die Psychiaterin hat einen straffen Zeitplan. Nicht nur heute. Sie erzählt mir: Für Patientinnen und Patienten wie Savanna sei es nicht nur wichtig, ihre Diagnose zu kennen, sondern vor allem, diese Diagnose auch zu verstehen.
"Da geht es weniger darum, dass Kinder oder Jugendliche sagen ‘Ich bin depressiv. Ich möchte, dass sie das wegmachen’, sondern es geht eher darum, dass wir uns um Einschränkungen kümmern", erklärt sie. "Und dann versuchen wir, daran zu arbeiten. Ja, ich möchte mehr Freude im Leben haben. Ja, ich möchte meine Freunde wieder treffen. Ja, ich möchte wieder Sport machen und möchte irgendwie mehr aktiv am Leben teilhaben und nicht immer alleine zu Hause im Bett rumliegen."
Bis eine Diagnose allerdings feststeht, vergehen oft Wochen. Die Behandelnden lernen die Kinder und Jugendlichen kennen, lassen sie Fragebögen ausfüllen, Rollenspiele spielen.
Auch die Eltern, die Freundinnen und Freunde und die Lehrerinnen und Lehrer der Kinder werden zu Gesprächen eingeladen.

"Wir befinden uns alle auf einem Kontinuum"

Aber Umwelt und Umfeld sind nicht alles. Einige Menschen haben auch eine genetische Veranlagung für bestimmte psychische Erkrankungen. Mir ist aufgefallen, ich spreche immer von Erkrankung, sie immer von psychischen Störungen. Vielleicht können wir die Begrifflichkeit noch mal klären.
"Erkrankung heißt: Du bist krank, ja oder nein", erklärt Yonca Izat. "Bei Störungen würde ich sagen, es ist etwas, was sich auf einem Kontinuum befindet, zwischen sozusagen 'weniger gestört', 'kaum gestört', dann 'ein bisschen mehr gestört', 'sehr gestört'. Und ich finde, dass wir uns alle auf so einem Kontinuum befinden, zwischen sozusagen psychisch gesund und psychisch krank."
Neben der Tagesklinik gibt es auch eine Station, wo die Kinder und Jugendlichen einziehen, für längere Zeit. Unterteilt wird aber nicht nach Störungsbildern, sondern nach Altersgruppen.
"Und die haben sozusagen ein gemeinsames Rahmenprogramm", erzählt Yonca Izat. "Wann sie frühstücken, wann sie zur Schule gehen, nachmittags Ausflüge oder Veranstaltung. Und dann gibt es aber natürlich ein individuelles Therapieprogramm: Einzelstunden mit der Einzeltherapeutin, Gruppentermine zu sozialem Kompetenz-Training oder mal eine Einzelstunde in Kunst, eine Einzelstunde in Musik."

Mit "Skills" im Gepäck die Klinik verlassen

Ich muss an Savanna denken und wie sie ihre Zeit hier erlebt hat.
"Das hat mir auch in der Behandlung sehr gut geholfen", erzählt Savanna. "Dadurch, dass ich wusste, da sind auch Patienten, die haben dasselbe oder haben so was in der Art auch schon mitgemacht und durchgemacht. Es war auch einfacher für mich, weil man mit den Leuten reden konnte oder man sich auch austauschen konnte mal und die einen verstanden haben."
Nach sechs Wochen kann Savanna die Klinik wieder verlassen. Im Gepäck hat sie sogenannte "Skills", die ihr helfen sollen, sich besser selbst zu spüren. Darunter Knete, an der sie ihre Gefühle ablassen kann, oder Bälle, die mit Stacheln übersät sind und sie oberflächlich Schmerzen spüren lassen, wenn sie das Bedürfnis danach hat.
Wenn dich jetzt jemand fragen würde, ob du keine Depression mehr hast, was sagst du dann, frage ich Savanna.
"Ich sage nur, weil ich in einer Behandlung jetzt war, einer klinischen Behandlung, heißt es nicht direkt, dass ich keine Depression mehr habe. Ich habe Depressionen, und die werde ich auch noch eine Zeit lang haben", sagt sie.
Kennengelernt habe ich Savanna kurz nachdem sie aus der Klinik entlassen wurde. Ganz zu Hause angekommen war sie damals im April 2020 noch nicht. Klar, ich bin auch nur die Fremde mit dem Mikrofon. Doch auch Corona macht es Savanna schwer. Schule findet gerade nur online statt.

Die Pandemie macht zusätzlich zu schaffen

Und eigentlich wollte die 15-Jährige dort allen persönlich von ihrer psychischen Störung erzählen. Aber das fällt nun aus. Es gibt keinen richtigen Alltag. Das macht vor allem Menschen mit psychischen Störungen zu schaffen.
Doch ihre Familie tut alles, um ihr zu helfen - allen voran ihre Mutter: "Ich war selber zwei Jahre in psychologischer Behandlung, auch mit Depressionen. Und das war eigentlich sogar ziemlich schnell nach der Geburt unserer Tochter. Ich fühlte mich müde, überfordert. Und bis man dann selbst irgendwie merkt, irgendwas stimmt da nicht, da ist es doch etwas anderes. Da war ich dann auch zwei Jahre in Behandlung und habe auch Antidepressiva bekommen. "
Doch dieses Verständnis kommt auch mit einem hohen Preis. Savannas Mutter fragt sich, ob sie für die psychische Störung ihrer Tochter verantwortlich ist. Die Frage nach der Schuld, das Gefühl von Schuld treibt die ganze Familie um. Savanna fühlt sich schuldig, weil sie eine Störung hat. Ihre Mutter fühlt sich schuldig daran, dass Savanna die Veranlagung dafür vielleicht von ihr geerbt hat.
"Also wir wissen, dass etwa von den psychisch erkrankten Erwachsenen, deren Kindern 50 bis 70 Prozent im Laufe ihres Lebens selbst erkranken. Das ist mehr als jeder Zweite. Das heißt, das ist als Risikofaktor unheimlich hoch", sagt Rieke Oelkers-Ax.

Risikofaktor Familie

Sie hat genau deswegen das familientherapeutische Zentrum in Neckargemünd bei Heidelberg gegründet. Weil der Risikofaktor einer psychischen Störung oft fast schon buchstäblich in der Familie bleibt.
"Zu uns kommen Familien nach einer langen Leidensgeschichte", erzählt sie. "Es kommen Familien, die in unserem Versorgungssystem nicht guten Platz finden. Meistens sind Eltern und Kinder psychisch erkrankt. Und da gibt es fast keine Möglichkeiten, gemeinsam aufgenommen zu werden."
Die psychische Störung der Eltern beeinflusst die Kinder massiv, betont die Kinder- und Jugendpsychiaterin. Los geht es meist schon, wenn Kindern noch ganz klein sind.
"Das Baby, das strampelt oder brabbelt, guckt der Mutter ins Gesicht", erklärt Rieke Oelkers-Ax. "Und wenn es dann nur in Leere guckt oder nur Verzweiflung oder Traurigkeit und überhaupt keine Antwort seiner eigenen Impulse kriegt, dann ist das Baby nicht in der Lage zu sagen: Die ist jetzt schlecht drauf, wende ich mich an jemanden anderen. Sondern das Baby schließt auch dann Schlüsse wie: Ich bin falsch oder meine Gefühle sind falsch."
Werden die Kinder älter übernehmen sie oft die Verantwortung, die ihre Eltern, aufgrund ihrer eigenen psychischen Störung nicht erfüllen können. Oder aber es ist so, dass die Eltern sich schuldig fühlen, weil sie ihre Disposition an ihr Kind weitergeben haben.

Stabiles Familiensystem ist sehr wichtig

Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Rieke Oelkers-Ax bietet Familienmitgliedern eine bis zu 14 Wochen lange Behandlung an, die helfen soll Beziehungen wiederaufzubauen. Ein stabiles Familiensystem ist einer der wichtigsten Schritte, um auch in Zukunft mit der psychischen Störung zurechtzukommen. Das merkt auch Savanna. Vor allem gegenüber ihrem Vater.
"Also es ist nicht mehr so, wie es noch vor anderthalb Jahren war, unser Verhältnis", erzählt Savannas Vater. "Das kann sich eigentlich nur noch ins Positive verändern. Also ins Negative, denke ich mal nicht. Dass es schlimmer wird oder dass wir uns ganz auseinanderleben, das glaube ich nicht. Aber ich denke mal, es braucht auch noch Zeit und, ja, Verständnis auch, dass man sich wieder annähern kann."
Puppen und Spielzeug in der Kinderpsychatrie im Vivantes Klinikum Neukölln.
Puppen und Spielzeug in der Kinderpsychatrie: Ein stabiles Familiensystem ist einer der wichtigsten Schritte.© Imago / Sven Lambert
Fast sechs Monate vergehen, bis ich Savanna wiedersehe. Es ist mittlerweile Oktober 2020.
"Zurzeit geht es mir grade sehr, sehr gut", sagt sie. "Also, ich habe keine Probleme. Ich bin recht glücklich und komme sehr gut mit allem zurecht."
Savanna wirkt wie ausgewechselt. Sie lächelt viel, lacht an einigen Stellen sogar, und auch ihre Stimme klingt anders, höher, fröhlicher. Schön also, dass sich was getan hat, auch wenn Savanna sagt, sie habe immer noch zu kämpfen.
"Rückfälle hatte ich, egal in welcher Hinsicht", erzählt sie. "Also ich musste Mitte Juni noch einmal als Notfall zurück in die Klinik, weil ich hoch selbst gefährdet war. Ich hatte Suizidgedanken und Selbstverletzungen. Und seitdem habe ich dann aber ein Antidepressivum bekommen. Und mir ging es viel, viel besser."

Psychische Störungen – ein steter Kampf

Es ist und bleibt ein steter Kampf für Jugendliche wie Savanna. Einer, den sie unter Umständen, für den Rest ihres Lebens führen müssen. Denn viele psychische Störungen, die ihren Anfang im Kindes- und Jugendalter nehmen, setzen sich im Erwachsenenalter mitunter fort. Warum ist das so? Trotz Therapie? Trotz Medikamente? Und wie wäre es, wenn es bei Menschen wie Savanna gar nicht erst soweit kommen müsste? Gibt es echte Prävention?
"Die Sache ist eigentlich die, dass es ganz, ganz, ganz, ganz wenige Präventionsprojekte gibt für den Bereich. Also 'Dude' ist dafür gedacht, dass Kinder lernen, ihre Emotionen zu regulieren und mit ihren Gefühlen besser umzugehen, umso Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Selbstverletzungen oder Drogenkonsum, Essstörungen verhindern zu können", sagt Alexandra Seidel.
"Dude" steht für "Du und Deine Emotionen". An diesem Präventionsprogramm haben Alexandra Seidel und ihre Kolleginnen und Kollegen in Würzburg anderthalb Jahre getüftelt. Die Grundidee stammt aus der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Borderline-Störungen.
Also von Menschen, die ein gestörtes Selbstbild haben und zu raschen Stimmungswechseln neigen. Bei ihrer Behandlung zeigt sich, dass besonders die Therapien erfolgreich waren, die den Betroffenen helfen, ihre Gefühle in Bahnen zu lenken.

"Dude" – Präventionsprogramm für Kinder und Jugendliche

Genau das möchte auch das Präventionsprogramm "Dude" schaffen, wie in einem animierten Video erklärt wird: "Gefühle sind mal schön, mal schlimm, mal kompliziert. Eines haben sie aber alle gemeinsam: Man kann sie nicht einfach ein oder ausschalten. Man kann nur lernen die Gefühlswellen zu reiten."
Zugeschnitten ist "Dude" auf die sechste Klasse, also auf ein Alter von elf bis zwölf Jahren. In zehn Schulstunden sollen die Kinder und Jugendlichen ergründen, was Gefühle sind, wie sich Anspannung aufbaut, wie sie Emotionen regulieren können und auch, wo sie sich Hilfe suchen können.
"In solchen Momenten kann es dann helfen, sich vorzustellen, wie jemand anders in der Situation reagieren würde", erklärt Alexandra Seidel. "Es kann eine Freundin oder ein Freund sein, den du schon immer dafür bewunderst, wie gelassen er ist und wie entspannt er ist. Oder auch jemand aus der Familie, der immer einen guten Ratschlag für dich bereithält."
Neben solchen Übungen arbeiten die Psychologen auch mit Rollenspielen, Erklär-Videos sowie Einzel- und Gruppenaufgaben. Aber "Dude" steht aber noch ganz am Anfang. Corona hat den Macherinnen und Machern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch die Studie zum Präventionsprogramm wurde um ein Jahr verschoben.

Wissenschaftliche Studie in Vorbereitung

Insgesamt sollen 3200 Schülerinnen und Schüler das Programm durchlaufen und dazu jeweils vier Fragebögen ausfüllen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Damit das Ganze wissenschaftlich ist, soll es eine Kontrollgruppe geben. Die Kinder und Jugendlichen in dieser Gruppe bekommen nur eine Broschüre. Abschließend will man die beiden Gruppen vergleichen, erklärt Marcel Romanos. Aus gutem Grund.
"Wir müssen vermeiden, dass Präventionsprogramme dazu führen, dass Kinder, die sonst nicht krank geworden wären, dann plötzlich ein höheres Risiko haben, psychische Erkrankung zu entwickeln", erklärt er. "Das ist nicht etwas, was wir uns nur so theoretisch überlegt haben, sondern es gibt in der Literatur Hinweise, dass manche Präventionsprogramme sogar negative Effekte hatten. Und diese Fehler müssen wir vermeiden."
Für das Team von "Dude" kommt es deshalb auch nicht infrage, dass psychische Störungen direkt angesprochen werden: sensibilisieren statt pathologisieren. Die Sorge, bei jemandem etwas auszulösen, sei einfach zu groß, betont Marcel Romanos. Der Professor leitet in Würzburg die Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie und ist Mitgründer des "Deutschen Zentrums für Präventionsforschung Psychische Gesundheit".
"Also wir haben natürlich enorme Kosten in unseren sozialen Sicherungssystemen, für die Krankenkassen, aber auch Rente et cetera", sagt er. "Und wenn man sieht, dass immer mehr Berentungen aufgrund von psychischen Erkrankungen erfolgen, dann muss man sich natürlich auch fragen: Lohnt es sich, für den Staat, für eine Gesellschaft insgesamt, früh präventiv zu agieren, weil dann auch viele Kosten verhindert werden können?"

Genanalysen als Lösung der Zukunft?

Marcel Romanos sieht das Präventionspotenzial aber nicht nur bei Programmen wie "Dude", sondern durchaus auch bei der Genanalyse:
"Die Biomarker von psychischen Erkrankungen zu identifizieren, ist eine ganz zentrale Zukunftsaufgabe, weil die uns dann eine Handlungsanweisung geben. Das heißt,die können uns dann sagen: Das ist ein Kind, das hat ein bestimmtes Risiko. Und dieses Kind braucht besondere Unterstützung, braucht besondere Maßnahmen, braucht besondere frühe Interventionen, damit es eine psychische Erkrankung nicht entwickelt."
Psychische Störungen und Gene. Ein Thema, das Forscher auf der ganzen Welt beschäftigt. In Zukunft könnte es womöglich eine Art Bluttest geben, der zusammen mit anderen Untersuchungen frühzeitig ein Risiko für psychische Störungen anzeigen soll. Savanna und ihre Mutter sehen eine solche genetische Analyse positiv.
"Also wenn so etwas gehen würde, hätte ich es wissen wollen", sagt Savanna. "Weil ich finde, man kann sich dann darauf viel besser einstellen und auch damit umgehen, als wenn man das nicht weiß, und das auf einmal plötzlich kommt und man merkt es ja auch erst mal gar nicht, sondern das entwickelt sich alles. Und irgendwann merkt man selbst, dass etwas falsch ist. Und dann ist es auf einer Art und Weise irgendwie auch schon zu spät, was zu machen."
Ihre Mutter fügt hinzu: "Und ich glaube, das wäre vielleicht gar nicht mal so verkehrt, dass man früher handeln kann, ohne dass es erst überhaupt schlimmer wird, dass sich das Kind überhaupt so schlecht fühlen kann und sich so zurückzieht. Sondern dass man gleich, wenn Anzeichen da sind, sagen kann: Okay, wir suchen uns jetzt Hilfe."

"Meine Klasse hat sehr, sehr gut darauf reagiert"

Aber ist das wirklich so? Kann man sich auf eine psychische Erkrankung vorbereiten? Und was bedeutet das konkret, "vorbereitet sein"? Zumal nicht jeder eine psychische Störung entwickelt, nur, weil eine genetische Veranlagung besteht oder das Umfeld schwierig ist.
Vorbereiten konnte Savanna sich jedenfalls nicht. Dafür hat sie sich aber vorgenommen, offen mit ihrer Diagnose umzugehen. Ein erster, ein wichtiger Schritt.
"Ich kann mich noch daran erinnern, dass du dir vorgenommen hast, als wir das letzte Mal gesprochen haben, dass du der Klasse erklären willst, was mit dir los ist und deswegen wollte ich natürlich noch mal fragen, hast du es gemacht?", frage ich Savanna.
"Ich habe es gemacht, und zwar schon direkt am dritten Tag, als ich wieder in der Schule war", erzählt sie. "Und ich habe es mir schlimmer vorgestellt, als es war. Denn meine Klasse hat sehr, sehr gut darauf reagiert, hat es verstanden. Und sie nehmen es weiterhin so hin, wie ich bin."
Auch Schülerinnen und Schüler aus anderen Klassen sprechen sie mittlerweile an. Was zeigt: Es gibt Bedarf an einem offenen Umgang mit dem Thema.
Jugendliche unterhalten sich (Symbolfoto)
"Schlimmer vorgestellt, als es war": Auch Schülerinnen und Schüler aus anderen Klassen sprechen Savanna inzwischen an. (Symbolfoto)© imago images / Arnulf Hettrich
"Ein Therapeut ist nichts anderes als ein Arzt und wenn die Kopfschmerzen haben, gehen die zum Hausarzt. Und ich habe halt psychische Probleme und gehe damit zum Psychologen", sagt die heute 15-Jährige und fügt nachdenklich hinzu:
"Für mich hat sich das angefühlt wie ein ganz dunkler, schwarzer Raum, wo nur ich bin und kein anderer. Und so sehr ich es auch wollte, Licht in diesen Raum zu lassen, Leute da rein zu lassen, ich konnte es nicht. Es war wie verschlossen. Ich bin da nicht rausgekommen."

"Verrückt, na und?" – ein Programm für Jugendliche

Diese Klarheit, diese Offenheit begegnet mir auch bei den Gründern des Vereins "Irrsinnig Menschlich e.V." Hier geht es darum, psychischen Störungen das gesellschaftliche Stigma zu nehmen. Der Verein mit Sitz in Leipzig führt seit 20 Jahren Präventionsprogramme an Schulen und Universitäten in ganz Deutschland durch.
Mitgegründet hat den Verein Manuela Richter-Werling: "Das mache ich mit Leidenschaft, weil ich selbst betroffen bin. Weil ich eben auch mit einem psychisch kranken Bruder aufgewachsen bin, der in der Schulzeit schon krank geworden ist, sich leider dann mit 56 suizidiert hat. Ich habe also auch sehr viel persönliche Erfahrungen. Ich denke, das ist das schönste Thema der Welt, wenn man sich für seelische Gesundheit engagiert."
"Verrückt, na und?" heißt eins der Programme aus Leipzig und richtet sich speziell an Jugendliche im Alter von 14 Jahren. Zusammen mit den Jugendlichen wird darüber geredet, was sie über psychische Störungen wissen, ob jemand von der Familie oder Freunden betroffen ist und wie diesen Menschen geholfen werden kann.
Alles geschieht im Dialog. Vorträge gibt es keine. Das Besondere an "Verrückt, na und?!" ist: Es geht immer ein Experte in die Klassen - also ein Arzt, Psychologe oder Sozialarbeiter - immer zusammen mit einem Menschen, der selbst eine Störung hat oder eine Störung bei den eigenen Eltern erlebte.
"Was am meisten nachgefragt wird, sind nicht, die Symptome einer Krankheit oder wie die behandelt wird, sondern haben deine Freunde zu dir gehalten? Hat deine Familie zu dir gehalten? Weil das ist das Kernthema, wenn man seelisch krank wird. Und wenn man chronisch krank ist, dann gerät man fast immer durch diese Stigmatisierung in die Isolation", sagt Manuela Richter-Werling.

"Es gibt kein drum herum reden"

Angst, dass einzelne Jugendliche durch den Kurs angestoßen werden, also getriggert werden, selbst eine psychische Störung zu entwickeln, hat Manuela Richter-Werling nicht. Vielmehr sitze das Thema sowieso schon in den Klassenzimmern. In jeder Klasse gebe es eine Schülerin, einen Schüler, die erste Anzeichen für eine psychische Störung zeigen oder deren Eltern selbst eine psychische Störung haben.
Auch Selbstmordgedanken seien keine Seltenheit. Ein falsches Schamgefühl oder Unsicherheiten würden eher dafür sorgen, dass die Jugendlichen die Stigmatisierungen einfach übernehmen, glaubt die Leipzigerin.
"Wissen, Aufklärung und Kontakt. Das ist die einzige Strategie, die belegt ist, dass es zur Vorbeugung von psychischen Erkrankungen nützlich ist. Es gibt kein drum herum reden", sagt Manuela Richter-Werling.
Begleitende Untersuchungen der Universität Leipzig bestätigen den Erfolg des Programms - vor allem in Bezug auf die eigenen Ziele. Das zeigt eine Evaluationsstudie mit Fragebögen aus den Jahren 2008/2009, sagt Maria Koschig.
"In dieser Hauptevaluationsstudie wurde geguckt, ob sich das Hilfesuchverhalten geändert hat, ob sich die soziale Distanz verändert hat - und die Stigmatisierung", erklärt sie. "Es wurde jetzt weniger geguckt, wie war es eben mit Depression, mit Angst, gab es irgendwie Erkrankungen und es wurde keine Diagnostik oder irgendetwas gemacht."

Schwierige Finanzierung bei Langzeitstudien

Es wurden also nur allgemeine Effekte auf die Jugendlichen gemessen, spezielle Krankheitsbilder wurden nicht untersucht, erklärt die Psychologin weiter. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialmedizin und Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig und kennt alle Untersuchungen rund um den Verein. Die Psychologin weiß daher auch, dass die Effekte auf die Schülerinnen und Schüler nach einem halben Jahr nicht mehr so stark sind.
"Grundsätzlich ist es ein schwieriges Feld", sagt Maria Koschig. "Generell sind einfach in der Forschung, was so psychische Erkrankungen betrifft, Langzeitstudien immer schwierig zu machen. Weil man dafür, wenn man die Projektgelder beantragt, diese dann auch in entsprechend langen Zeiträumen beantragen müsste. Dafür Finanzierung zu kriegen, ist sehr schwierig."
Die Bandbreite, um präventiv gegen psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen anzugehen, ist dann doch enorm: angefangen bei allgemeiner Aufklärung, über die Stabilisierung des familiären Umfelds bis hin zu gezielten Programmen. Das ist alles wichtig. Keine Frage, aber man darf nicht vergessen: Gerade bei Jugendlichen verändert sich vieles. Die Pubertät sorgt für Umbruchstimmung.
Dazu kommen Fragen nach der Zukunft: Die Schule beenden? Eine Ausbildung machen oder doch lieber studieren? Kurz: Junge Menschen müssen ihr Umfeld sortieren, sich orientieren und zu sich selbst finden. Da kommt nicht alles an, auch nicht das beste Präventionsprogramm.

"Spielt nichts vor, sondern zeigt eure Gefühle"

Trotzdem: Die Angebote können ermutigen, sich rechtzeitig Hilfe zu holen! Das habe ich während meiner Recherche gelernt. Vor allem auch wegen Savanna.
"Versucht, euch selbst zu zwingen, etwas zu machen", rät sie. "Versucht, aus euch raus zu kommen. Spielt nichts vor, sondern zeigt eure Gefühle und redet mit Familie, Freunden, denen ihr vertraut seid, denen ihr nahesteht. Und wenn ihr merkt, das geht gar nicht mehr, ihr braucht Hilfe, seht das auch ein."
Seit sie in der Klinik war, seit Savanna weiß, dass sie eine Depression hat, hat sie sich verändert. Sie hat wieder Ziele, möchte nach dem Abitur Erzieherin werden. Und auch die Eltern sind stolz auf ihre Tochter. Mit jedem Tag öffnet sie sich mehr, nimmt wieder am Familienleben teil.
"Sie hört", sagt ihre Mutter. "Und wenn ich dann auch mal sage, Nein, was sehr ungewöhnlich ist, akzeptiert sie diese Tatsache mal, wenn man auch mal Nein sagt und sagt okay, dann nehme ich so hin."
Savanna hört nicht mehr auf, zu lächeln, wenn sie ihre Mutter so reden hört. Es ist ansteckend. Kannst du dir erklären, warum dir das jetzt wieder einfacher fällt?
"Ich kann es mir nicht erklären", sagt sie. "Aber ich denke einfach, weil ich, seitdem ich in der Klinik war, ein sehr, sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter aufgebaut habe und gemerkt habe, wie schlecht es eigentlich für einen Menschen, für ein Kind ist, das Vertrauen der Eltern, der Mutter vor allem, nicht zu haben. Und seitdem baue ich mir das halt sehr, sehr gut wieder auf. Und ich bin sehr stolz, dass ich es auch wieder habe."

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen, Suizidgefährdete und ihre Angehörigen:

Wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinden, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800-1110111 (kostenfrei) und 0800-1110222 (kostenfrei) oder online unter https://www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Beratungsstellen gibt es unter https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/adressen.


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