Wenn Kapitalismus und Demokratie sich trennen müssen

04.03.2013
Der Soziologe Wolfgang Streeck beschreibt, wie sich das Finanzkapital seit den 70er-Jahren zum mächtigen Gegenspieler der demokratischen Staaten etabliert hat. Noch könnten sich aber die Bürger gegen die neue Übermacht wehren.
Seit fast fünf Jahren sitzt die Krise an den Abendbrottischen: Bei der einen Familie gibt es fast nichts mehr zu essen, die andere musste sich stark einschränken, und nur bei einigen wenigen sieht die Krise noch aus den Fernsehapparaten zu. Wir haben uns an unvorstellbar hohe Summen gewöhnt, mit denen Privatleute verschuldet sind, Staatshaushalte in der Kreide stehen und Banken gerettet werden müssen. Die Krise ist Alltag.

Wie es dazu kam, darüber hat der Soziologe Wolfgang Streeck, geboren 1946, ein furioses Buch geschrieben. Entstanden aus drei Vorträgen, die der Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftspolitik 2012 unter dem Titel "Adorno-Vorlesungen" in Frankfurt gehalten hat, nimmt er die vergangenen vierzig Jahre in den Blick – und zeigt, wie sich aus dem sozialen Kapitalismus der Nachkriegszeit der jetzige Neo-Kapitalismus entwickelt hat.

Anders als die kapitalismuskritischen Krisentheorien der siebziger Jahre, die die Bruchstelle des Kapitalismus darin sahen, dass dieser die Legitimation bei "den Massen" verlieren würde, beschreibt Streeck das damals Unvorstellbare: Dass nicht "die Massen" dem Kapitalismus die Gefolgschaft aufgekündigt haben, sondern das Kapital. Er beschreibt, wie das Finanzkapital in einer langen Entwicklung seit Mitte der 1970er Jahre sich zum dritten, mächtigen Spieler neben Bürger und Staat mausert, als "Marktvolk", das niemand kontrolliert und alle beherrscht.

Es ist eine furiose Fahrt, auf die Streeck seine Leser mitnimmt. Er zeigt, wie die Politik über vier Jahrzehnte immer wieder mit Geld Zeit kaufte – um die Lösung der Probleme, für die man keine Antwort hatte, in die Zukunft zu verschieben. Durch das Auftreten des mächtigen Mitspielers Finanzkapital jedoch wurde ein neues Stadium erreicht im Verhältnis zwischen Demokratie und Kapital. Denn längst übt das Kapital seinen Einfluss nicht mehr nur indirekt aus, indem es investiert oder nicht-investiert. Es ist ganz direkt bei allen politischen Entscheidungen dabei, insofern es über Finanzierung oder Nicht-Finanzierung von Staaten entscheidet.

Die Folgen für die Demokratie könnten kaum dramatischer sein: Die Souveränität von Staaten wird beschnitten; die Politik von Regierungen unterwirft sich der Disziplin der Finanzmärkte, so Wolfgang Streeck.

"Wenn der Kapitalismus des Konsolidierungsstaates auch die Illusion sozial gerechter geteilten Wachstums nicht mehr zu erzeugen vermag, kommt der Moment, an dem sich die Wege von Kapitalismus und Demokratie trennen müssen."

Dass die Demokratie gegen den Finanzkapitalismus den Kürzeren zieht, scheint klar. Was aber geschähe, wenn die Bürger nicht mehr bereit wären, ihr Leben lang Schulden abzubezahlen? Oder wenn Staaten von ihrem Recht Gebrauch machten, die Zahlungen an ihre Gläubiger einzustellen?

Statt Zeit zu kaufen, rät Streeck am Ende seines beeindruckenden Buches, Zeit zu gewinnen – mit dem Ziel, doch noch zu Lösungen zu kommen, auch wenn er den Versuch, die Demokratie zu retten als ein langfristiges, schwieriges Projekt mit unklarem Ende beschreibt. Er hält es aber nicht für unmöglich, wenn sich die Bürger gegen den europäischen Konsolidierungsstaat wehren – mit Hilfe der Reste ihrer nationalen Demokratien.

Besprochen von Liane von Billerbeck

Wolfgang Streeck: "Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus"
Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012
Suhrkamp, Berlin 2013
271 Seiten, 24,95 Euro