"Wenn die Lichter ausgehen"

Ein Hörbuch-Tipp von Hartwig Tegeler · 22.04.2005
1940 erschien in New York unter dem Titel "The Lights Go down" ein Zyklus, der Geschichten aus dem Alltagsleben im Dritten Reich enthielt. Es dauerte 65 Jahre, bis Erika Manns Buch "Wenn die Lichter ausgehen" in deutscher Sprache erschien. Die Tochter von Thomas Mann liefert hier keine stilistisch ausgefeilte Literatur wie ihr Vater; aber ihr Schlaglicht auf den Alltag der Nazidiktatur ist eindrucksvoll zu lesen oder jetzt zu hören.
"Unsere Stadt. Das Leben in unserer Stadt ging weiter."

So als ob nichts wäre.

"Der alte Marktplatz mit seinen bunten Häusern rund um das berühmte Reiterstandbild hatte sich seit Jahrhunderten nicht verändert."

Eine süddeutsche Universitätsstadt. Eine idyllische deutsche Stadt.

"Dem zufälligen Besucher bot sich ein friedliches zauberhaftes Bild."

Wie auch dem Amerikaner, der an diesem lauen Sommerabend des Jahres 1939 durch die alten Gassen flaniert.

"Er war von der schläfrigen Anmut und der außergewöhnlichen Stille beeindruckt. Abends um halb zehn kam´s ihm dennoch seltsam vor. Nur die roten Fahnen an den Fenstern raschelten leise im Wind."

Die Fahnen mit dem Hakenkreuz. Und der Amerikaner wird von einer windhauchfeinen Irritation langsam, aber sicher geführt werden zu einem klareren Blick über den Alltag in Deutschland wenige Wochen vor dem Weltkrieg. Er wird sehen können, wie Diktatur und Barbarei sich in den Alltag dieses Landes hinein gefressen haben. Und die Episode mit dem Taxifahrer, der zuviel – zuviel für dieses Nazi-Deutschland – redet, ist noch harmlos.

"Erstaunlich, wie offen dieser Mann redet, dachte der Fremde. Zumindest ist all das Gerede über Furcht unberechtigt. Wie kann so jemand wissen, dass ich ihn nicht anzeige. Offensichtlich hat er von den Behörden nichts zu befürchten. Das Taxi hielt an, der Fremde zahlte und gab ein gutes Trinkgeld. Vielen Dank, meinte der Taxifahrer. Und bitte sagen Sie es keinem, dass ich ein bisschen viel geredet habe. Wenn der Fahrgast Ausländer ist, hat man nicht soviel Angst."

Sie war Schauspielerin, für kurze Zeit mit Gustav Gründgens verheiratet, schrieb Kinderbücher, fuhr Autorennen, gründete in München das Anit-Nazi-Kabarett "Die Pfeffermühle". Für die Nazis war die 1905 geborene Erika Mann, die "politische Gebrauchshure" aus dem Hause Mann. 1939 – unter dem Eindruck des drohenden Krieges - begann die Tochter von Thomas Mann mit der Niederschrift ihres Zyklus "Wenn die Lichter ausgehen" - "wahre Geschichten aus dem Dritten Reich", wie Erika Mann damals schrieb.

Geschichten über die kleinen Mitläufer, Mitmacher, Denunzianten, aber auch über diejenigen, die mit Verzweiflung und Mut versuchen, Verstand und Menschlichkeit zu bewahren: Der Kolonialwarenhändler, der seine Bilanzen frisiert, um staatliche Rentabilitätsnormen erfüllen zu können; der Literaturredakteur, der Blut-und-Boden-Prosa schreibt, bis er sich nicht freiwillig, aber dann mit Wut zum Gegner des System entwickelt, und es in letzter Minute schafft zu emigrieren. Oder der Gestapo-Chef der idyllischen Universitätsstadt:

"Gestapo-Chef Franz Deiglmayr zog Zivilkleidung an, schob seinen Hut tief in die Stirn und schlich zur Telefonzelle am Marktplatz."

Franz Deiglmayr wird den Versuch unternehmen, seine jüdischen Mitbürger vor dem Terror in der so genannten Reichskristallnacht zu warnen und zu retten.

"Er zog den Zettel mit den Namen und Adressen der jüdischen Bürger aus der Tasche, die nach Informationen des örtlichen SA-Sturmbannführers am nächsten Tag verhaftet werden sollten, und deren Besitz dem Erdboden gleichgemacht werden sollte. Er rief jeden Einzelnen von ihnen an. Er nannte seinen eigenen Namen, weil er wusste, dies würde gleichzeitig Furcht und Gewissheit verbreiten."

Seine verzweifelt menschliche Tat wird der Gestapo-Chef, der nach den Anrufen ins Ausland flieht, mit dem Leben bezahlen. - Die große Qualität von Erika Mann, mit eindrucksvoller Sensibilität und Schönheit von Lena Stolze gelesen – wunderbar zum Anhören -, die Qualität dieser einfachen, nüchtern erzählten Texte liegt in der Nachhaltigkeit, wie sie den Schleier der Normalität von der Diktatur reißen.

Die Geschichten aus dem Zyklus "Wenn die Lichter ausgehen" – zehn hat Erika Mann geschrieben, sechs finden sich in dieser Hörbuch-Lesung - bilden in gewisser Weise einen Kontrapunkt zu der Beschäftigung mit der Nazivergangenheit, wie sie nach bestimmten "Formeln und Reflexen" (eine Formulierung von Ijoma Mangold aus der Süddeutschen Zeitung) ... wie unsere Erinnerungskultur inzwischen funktioniert und Einschaltquoten bringt.

Hitler, Speer, Hitlers Sekretärin, Goebbels und so weiter und so fort: repräsentative Biographien, die großen Dämonen, die großen Täter oder die berühmten Opfer – wie Sophie Scholl. Erika Manns Ansatz ist ein anderer: Ausgehend von den einfachen Menschen, den so genannten kleinen Leuten zeigt sie, wie sich der Terror in den Alltag eingenistet hat. So entsteht ein ungeheuer präzises und bedrückendes Bild, wie eben nicht nur die Nazi-Funktionäre in Berlin das "Tausendjährige Reich" effektiv in Gang hielten und in den Untergang führten. Jemand schrieb über "Wenn die Lichter ausgehen", Erika Mann hätte eine "Mentalitätsstudie" geschrieben. Eine Mentalitätsstudie über die Deutschen. – Ein Mann beispielsweise unternimmt alles, um ins Exil gehen zu können. Der Mann bekommt Besuch von einem deutschen Beamten:

"Wie viel soll ich Ihnen schicken?", fragte Eberhardt, der im Inneren die ganze Summe aufgeben wollte, der sein Gegenüber ihm nur seinen Pass wiedergeben würde. "Schicken?", fragte der Oberzollinspekteur. "Schicken, Parteigenosse? Wer redet von schicken? Sie müssen die Summe hier übergeben, bevor sie abreisen. Sonst müssen Sie hier bleiben."

Erika Mann: "Wenn die Lichter ausgehen"
Geschichten aus dem Dritten Reich
Auswahl/Lesung mit Lena Stolze
Drei CDs mit Booklet
Laufzeit: ca. 230 Minuten
Hoffmann und Campe Verlag 2005