Wenn die Eltern zu Pflegefällen werden

13.02.2007
Wenn die Eltern krank oder alt werden, stehen die Kinder vor der Frage: Wohin mit ihnen? Selbst sieht man sich nicht dazu in der Lage, die schwierige Aufgabe zu schultern, und ein Pflegedienst ist teuer. Bleibt also nur das Heim? In "Wohin mit Vater?" schildert ein Sohn seine leidvollen Erfahrungen mit dem deutschen Pflegesystem.
"Wohin mit Vater?", fragt sich der Sohn, der unerkannt bleiben möchte, sorgenvoll, nachdem die Mutter gestorben ist. Sie, die bis ins hohe Alter kommentarlos die Pflege des kranken Vaters, ihres Mannes, übernahm, ist weg. Was also kommt statt ihrer? Plötzlich steht diese Frage im Raum, wie ein Unheil bricht sie über die Kinder hinein. Vorher war alles so gut geregelt – zumindest aus Sicht der Kinder. Oder war es vielmehr Verdrängung, dank derer man glauben wollte, alles sei in bester Ordnung?

Die Mutter hat sich schließlich kaum beschwert. Nur einmal, so schreibt der Autor, kurz vor ihrem Tod habe sie von der eigenen Schwäche geredet. Von der Last den Vater zu pflegen, ihn zu waschen, ihm die Treppe hinunter zu helfen, ihm Essen zu kochen, ihn zu unterhalten. Doch war dieser Notruf so leise, so verhalten, dass die Frage, wohin mit Vater, nicht laut gestellt werden musste. Es läuft doch ganz gut, so wie es läuft. Die Mutter ist zwar selbst schon über 70 Jahre alt, aber sie ist es doch gewohnt, sich um andere zu kümmern. Die Kinder kommen, wenn überhaupt mal, auf Besuch vorbei. Und so soll es am besten auch bleiben. Ihr da, wir hier. Ihr habt eure Sorgen, wir unsere.

Es ist das alte Drama, das Anonymus, so der Name unter dem 180-seitigen, kleinen Buch, eingängig schildert: Kinder wollen Kinder bleiben – zumindest wenn es um die Pflege der Eltern geht. Verantwortung für die Menschen zu übernehmen, die einen großgezogen haben, die Respektpersonen sind und die einem zeitlebens vielleicht sogar gesagt haben, was man tun und lassen soll, das ist schwer. Verdammt schwer sogar. Denn dann findet eine Verkehrung statt, die so gar nichts mit der menschlichen Natur zu tun hat. Wir sind zwar alle darauf programmiert, die eigenen Kinder zu behüten, zu pflegen und großzuziehen, aber die Eltern zu betreuen, passt in dieses Programm nicht wirklich rein. Nicht umsonst, freuen sich alle, wenn es den Eltern so gut geht, dass sie sich selbst versorgen können.
Kommt der Tag aber doch, an dem die Eltern zu Pflegefällen werden, dann plötzlich kracht das Kartenhaus zusammen. Hilflosigkeit, Ohnmacht, Selbstvorwürfe bestimmen die Suche nach einer Lösung auf die Frage: Wohin mit Vater?

Diese drei Worte bergen einen Sprengstoff, der nicht selten Familien entzweit. Denn muss man die eigenen Eltern nicht selbst betreuen? Ist das nicht das mindeste, wenn man nicht als komplett egoistisch und unmoralisch gelten will? Dazu kommen noch die Wünsche der Eltern, die es auch zu berücksichtigen gilt. Alte Menschen wollen nicht gerne ihr Zuhause verlassen. Sie wollen bleiben, wo sie sind. Und sie wollen auch nicht entmündigt werden. Der Gedanke an ein Pflegeheim löst daher Unwillen aus – bei Eltern wie Kindern. Die Alternative einer häuslichen Rundum-Pflege ist teuer und mit einem Kostenpunkt von 10.000 Euro pro Monat nicht selten unerschwinglich.

Auch für Anonymus. Der pragmatische Mittfünfziger, der in seiner Not etwas hilflos zum Telefonbuch greift, muss erleben, dass Altenpflege in Deutschland ein schwieriges, schmerzvolles Thema ist. Die Devise "Anruf genügt" gilt hier nicht. Die Heime, die er sich anschaut, sind unmenschliche Verwahranstalten. Nicht selten riecht es nach Fäkalien. Die Zimmer, die sich zwei bis dahin fremde Personen teilen müssen, sind pragmatisch eingerichtet. Persönliches findet sich selten. Und dass, obwohl so ein Pflegeplatz schnell an die 3000 Euro pro Monat kostet. Wie kann das sein, fragt sich der Autor und er ist damit nicht allein.

Angetrieben durch die eigene Notlage, die in ihrer Verzweiflung immer wieder schonungslos nach außen bricht, sucht der Autor nach Lösungen. Er spricht mit anderen erwachsenen Kindern, die pflegebedürftige Eltern haben, lässt sie in seinem Buch ausführlich zu Wort kommen. Er besucht Heime, die einen guten Ruf haben, so wie das von Rudi Gosdschan in Karlstadt. Schildert, was dort anders, was dort besser läuft und bietet so wichtige Denkanstöße, wie Pflege aussehen könnte. Er taucht ein in die unverständlichen Regelungen der Pflegeversicherung, die Heimen mehr zahlt, je schlechter es den Bewohnern geht und damit indirekt zum Krankpflegen aufruft. Kurz: Anonymus sucht nach der besten Lösung für sich und den Vater. Die findet er schließlich in der illegalen, polnischen Pflegekraft Teresa: Sie pflegt den Vater, in dessen Haus, rund um die Uhr für 1100 Euro pro Monat. Ein unhaltbarer Zustand, eigentlich, aber was bleibt sonst, fragt der hilflose Sohn?

Und genau das ist der große Verdienst dieses hoch emotionalen Buches, dass es uns zwingt mitzuerleben, was passiert, wenn Kinder und Eltern ihre Rollen tauschen. Schonungslos leidet man mit, schlüpft mal in die Rolle des Sohnes, dann in die des Vaters. Körperlich wird einem unwohl. Und schon nach wenigen Seiten fragt man sich bang, was ist eigentlich, wenn meine Eltern Pflegebedürftig werden? Haben wir vorgesorgt? Und genau wie bei Anonymus müssen wir lernen, das Thema macht uns und unseren Eltern Angst. Darüber will man nicht sprechen – das wir es aber müssen, dass lehren uns diese 160 Seiten. Und das ist gut so!

Rezensiert von Kim Kindermann

Anonymus: Wohin mit Vater? Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem
Fischer Verlag
180 Seiten, 16,90 Euro