Wenn der Ferienort zur Heimat wird

30.11.2010
Lange weiß man nicht, was man mit diesem Büchlein in Händen hält: ein schlicht erzähltes Tagebuch, ein Protokoll von Wetterumschwüngen oder eine Dorfchronik aus den Schweizer Bergen? Und doch ist man vom ersten Moment an gefangen.
Denn die Geschichte, die ihm zugrunde liegt, verbindet das Banale und das Exotische auf eine Weise, die sofort neu-gierig macht. Die Journalistin und Autorin Angelika Overath, 1957 in Karls-ruhe geboren, ist vor drei Jahren mit Mann und jüngstem Sohn (zwei ältere Kinder sind bereits erwachsen) in ein kleines Dorf im Unterengadin gezogen. Zuvor hatte die Familie es nur als Ferienort gekannt. Warum macht man so etwas? Und was erlebt man dann?

Der Auslöser war denkbar schlicht, die Lebensentscheidung ergab sich, wie das manchmal vorkommt, beiläufig. Das Paar hatte nach einer Erb-schaft ein altes Bauernhaus zur Ferienwohnung umgebaut. Als der Um-bau fertig war, sagte sie: "Wir könnten auch hierher ziehen." Und er antwortete: "Ja, das können wir machen." Zum Erstaunen der Freunde haben sie einfach getan, wovon andere nur träumen. Sie haben den Ferienort zur Heimat gemacht. Die Wohnung in Tübingen haben sie auf-gelöst, um mit Sack und Pack nach Sent zu ziehen, einer Tausend-Seelen-Gemeinde hoch über dem Inn, 1450 Meter über dem Meer, nah an der Grenze zu Österreich und Italien.

Das Tagebuch beginnt am 1. September 2009 und umfasst ein Jahr. Wir lernen die Topografie des Ortes kennen: neugotische Kirche, Grund-schule, schmale Gassen. Den Kulturverein, die Wiesen und lichten Lärchenwälder, die sanften Kühe, das erlegte Wild. Den Rhythmus der Jahreszeiten mit extrem kurzen Sommern und lange bleibendem und manchmal selbst im Juni zurückkehrendem Schnee. Die zahllosen Enziane, "wie hingeschüttet" in ihrem Blau, den schnellen Licht- und Wetterwechsel.

Und wir lernen vor allem die Bewohner kennen, an denen uns nicht nur die Namen verblüffen, die meistens rätoromanischen Ursprungs sind. Es wimmelt von alleinerziehenden Müttern, pendelnden Kindern und Ehe-partnern, von Patchwork-Familien und Kosmopoliten, die nicht nur in Sent zuhause sind, sondern auf der ganzen Welt – wie der Künstler Not Vital, mit dem die Autorin in regem Mailkontakt steht.

Es ist das Faszinosum dieses ungewöhnlichen Tagebuchs, dass es uns in einer anschaulichen, atmosphärisch starken und zugleich ausgesprochen schlichten Sprache vorführt, wie weit die Globalisierung vorangeschritten ist: bis in die hintersten Winkel der Schweizer Berge. Die Bewunderung für den Mut der Autorin wird nicht geschmälert, wenn man erkennt, dass auch sie nicht ausschließlich an ihrem neuen Wohnort lebt. Oft ist sie auf Reisen, bei Festivals und auf Lesungen in Norddeutschland oder in der Schweiz, in Österreich oder Prag. Regelmäßig lehrt sie an der Journalistenschule in Luzern, den Spätsommer verbringt sie mit Mann und Sohn in Vermont, wo die Autorin und der Germanist Seminare geben.

"Alle Farben des Schnees" ist das heitere Pendant zu Angelika Overaths letztem Roman "Flughafenfische", der von einer Handvoll Figuren erzählt, die im anonymen Transitraum eines internationalen Flughafens stranden. Hier im Bergdorf kennt man einander. Ein unprätentiöses, anregendes Buch, das manchmal, als bräuchte es ein Gegengewicht zum Kosmopolitischen, auf schöne Weise schrullig ist.

Besprochen von Meike Feßmann

Angelika Overath: Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch
Luchterhand Verlag, München 2010
255 Seiten, 18,90 Euro