Wenn Authentizität falsche Rollen fordert

Rezensiert von Hartmut Krug · 22.11.2008
Anne Rabes Stück "Achtzehn Einhundertneun - Lichtenhagen" untersucht in ihrem Stück, wie sich Familienstrukturen nach der Wende entwickelt haben für junge Menschen. Es zeigt, wie Menschen auf der suche nach Identität allzu oft in vorgefertigte Muster verfallen. Die 27-jährige Regisseurin Julia Kunert entgeht geschickt der Klischeefalle, ihre Inszenierung ist aber etwas langatmig.
Das mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnete Stück der 1986 in Wismar geborenen Anne Rabe nennt in seinem Titel "Achzehn Einhundertneun - Lichtenhagen" die Postleitzahl der Plattenbausiedlungen von Rostock-Lichtenhagen. Hier, wo es 1992 zu den schlimmsten, gewalttätigen fremdenfeindlichen Ausbrüchen in Ostdeutschland gekommen ist, lebt Michael mit seiner Schwester und seiner Mutter. Sein geliebter Vater, zu DDR-Zeiten Lehrer und Stasi-Spitzel, ist nach der Wende in den Westen "geflüchtet".

Michael will einen Dokumentarfilm über seine Familie drehen und hat sich mit ihm an der Filmhochschule beworben. Anne Rabe untersucht in ihrem Stück, wie sich Familienstrukturen nach der Wende entwickelt haben für junge Menschen wie Michael und seine schwangere Schwester Klara, die Erfahrungen mit der DDR nur in ihren Kinderjahren machten. Gezeigt wird, wie alle bei den Filmaufnahmen auf der Suche sind, wobei sie, wegen der von Michael geforderten Authentizität, vorgeformte Bilder produzieren oder sich falsch inszenieren.

Höchst komisch wirkt es, wenn sich zum Beispiel Michael mit dunkler Sonnenbrille als cooler Regisseur geriert, oder wenn die Mutter den Topf mit Alpenveilchen immer wieder umarrangiert.

In einer spießigen Plattenbauwohnung deckt die Mutter, deren Verunsicherung die Schauspielerin Susanne Stein mit subtiler Körpersprache verdeutlicht, immer aufs neue den Kaffeetisch. Der reale Vorgang, bei dem erst sauber gemacht und dann eine Decke drüber gelegt wird, ist zugleich deutliche Metapher für die unsichere Suche der drei Familienmitglieder. Die abgebrochen wird, nachdem die Mutter absichtlich Wasser über Michaels Filmmaterial geschüttet und sein Vater ihm das seit der Kindheit gewünschte Rennrad geschickt hat. Auch Klara scheint nicht weiter an Vergangenheitsaufarbeitung interessiert zu sein, weil sie eine Stelle beim Rundfunk in Aussicht bekam.

Die 27-jährige Regisseurin Julia Kunert inszeniert das Theaterstück als eine Folge kurzer, von Blacks unterbrochener filmischer Momentaufnahmen. Die Theaterszene wirkt wie ein Filmset. Durch die Betonung der Flüchtigkeit der Situationen wird verdeutlicht, dass keine endgültig wahren Aussagen und keine Authentizität zu finden sind. Indem die Autorin die Suche von Menschen nach unverstellter Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung ausstellt, entgeht ihr Stück, obwohl es zahlreiche Reizthemen wie Stasi und Mauerfall, Arbeitslosigkeit und Ausländerhass berührt, geschickt der drohenden Klischeefalle. Allerdings wirkt die Inszenierung, obwohl kaum eineinviertel Stunden lang, ein wenig langatmig.


"Achtzehn Einhundertneun - Lichtenhagen" von Anne Rabe
Uraufführung am Theater Chemnitz
Regie: Julia Kunert
Ausstattung: Ivonne Theodora Storm
Darsteller: Karl Sebastian Liebich, Claudia Kraus, Susanne Stein