Wenderoman aus britischer Sicht

Rezensiert von Lutz Bunk · 17.05.2006
1977 in England: An seinem 16. Geburtstag erfährt Peter Hithersay, dass er einen ostdeutschen Vater hat. Er macht sich auf nach Leipzig, lernt dort eine junge Frau kennen, der er verspricht, ihr zur Flucht zu verhelfen. Das Versprechen bricht er zwar, hinterlässt dem Mädchen aber ein bleibendes Andenken und ist fortan von Schuldgefühlen geplagt. Erst nach der Wende kommt es zu einem merkwürdigen Wiedersehen.
"In dieser einen Nacht", so heißt der neue, vierte Roman von Nicholas Shakespeare. Seinen internationalen Durchbruch als Romancier hatte Nicholas Shakespeare mit seinem dritten Roman "Der Obrist und die Tänzerin", der 2003 auch in Deutschland erschien. Shakespeare arbeitet außerdem weiterhin als Journalist, und er machte sich auch einen großen Namen als Sachbuchautor, besonders mit der autorisierten Biographie des britischen Reiseschriftstellers Bruce Chatwin und vor einem Jahr mit der Geschichte der Insel Tasmanien.

Und wieder verwebt Shakespeare in seinem neuen Roman "In dieser einen Nacht" historische Vorgänge und Fiktion.

Der eigentliche Roman beginnt 1977 in England. Da erfährt der 16-jährige Peter Hithersay an seinem Geburtstag von seiner Mutter, dass er eigentlich einen deutschen Vater hat. Seine Mutter hatte 1963 als Besucherin in Leipzig eine sehr kurze Affäre mit einem DDR-Dissidenten, von dem sie nur weiß, dass er aus dem Zuchthaus Bautzen ausgebrochen war.

Nun mittlerweile 23 Jahre alt und Medizinstudent in Hamburg, macht sich Peter Hithersay 1983 auf die Suche nach seinen Wurzeln und reist nach Leipzig. Und dort kommt es dann zu dieser einen Nacht. Peter verbringt drei Tage mit einer jungen Leipzigerin und zeugt, ohne es zu wissen, ein Kind, verspricht diesem Mädchen, ihr am nächsten Tag Fluchthilfe zu leisten, bricht aber dieses Versprechen und verleugnet sie, ohne sie je vergessen zu können. Er reist zurück nach Hamburg und lebt als Arzt in Westdeutschland.

Und dann, 19 Jahre lang, das heißt über 300 Buchseiten, werden Peter und auch die Leser quasi auf die Folter gespannt, auf der Suche eben nach jenem Mädchen aus Leipzig. Im Jahr 2002 kommt es dann in Leipzig zu einem Showdown.

"In dieser einen Nacht" ist ein Wenderoman. Shakespeare allerdings geht an dieses Thema mit britischer Nonchalance heran, also wie ein vergleichender Anthropologe oder wie ein guter Reisejournalist. Und er personalisiert Gesellschaft, das heißt, er gibt dem Phänomen Ostdeutschland eine weibliche Identität: durch jene rätselhafte und verführerische junge Leipzigerin, sozusagen eine ostdeutsche Loreley.

Es ist ein politischer Roman, auch wenn sich Shakespeare in der Hinsicht zurückhält. Zwar beschreibt er bis ins kleinste Detail die Unterdrückung und Bespitzelung in der DDR, auf der anderen Seite erleben wir in dem Roman auch einen ehemaligen Stasi-Offizier als Helden, der, mit der Pistole in der Hand, Peter Hithersay auf der Suche nach jener geheimnisvollen Leipzigerin hilft.

Über weite Strecken liest sich das Buch wie ein Krimi und, was nicht weniger spannend ist, wie eine sehr kritische Sozialstudie, wenn z.B. der "normale" Drogenkonsum deutscher Krankenhausärzte beschrieben wird.

Am auffälligsten für Shakespeares Sprache und seinen Stil aber sind seine enorme Beobachtungsgabe und der Wunsch, Dinge sinnlich erfahrbar zu machen: Gefühle, Gerüche: "Der Geruch des Räucherstäbchens vermischte sich mit dem von Eichhörnchen und brennendem Staub." Alles in allem, Shakespeare ist einfach ein flotter und frecher Erzähler, und er kennt alle Tricks, wie man einen Leser auf die Folter spannt.


Nicholas Shakespeare: "In dieser einen Nacht"
Übersetzt von Hans M. Herzog.
Rowohlt Verlag 2006,
536 Seiten, 22.90 €.