Wendepunkte in anekdotischer Knappheit

06.03.2012
Alexander Kluge schreibt keine Romane. Er sammelt Geschichten, von denen viele das Zeug zu einem Roman hätten. Die über den russischen Soldaten etwa, der im Berlin von heute auf den Spuren seiner Vergangenheit unterwegs ist. Es sind Geschichten, die er auf der Hinterbühne der großen Geschichte findet.
Alles, so hat es den Anschein, liefert ihm das Material für seine "Lebensläufe", Musiker aus der Postrockszene genauso wie die Altertumsforscher von Tell-Halaaf. Schon in seinen vorangegangenen vier Büchern (das erste erschien vor genau 50 Jahren) bediente er sich dieses für ihn typischen poetischen Verfahrens. Dabei heißen seine großen Themen wie gewohnt Liebe und Arbeit.

Auch Versatzstücke aus der eigenen BiographieBiografie sind in diese Lebensläufe hineingeflochten: wie sich der Gerichtsreferendar Kluge eines Tages zwischen 14 Uhr und Dienstschluss dazu entschließt, Schriftsteller zu werden oder wie der Schüler Alexander Nachhilfe in Latein bekommt, was ihn über viele Verzweigungen bis zu einer Vorfahrin aus der jakobinischen Ära der französischen Revolution hinabsteigen lässt, die zur (fiktiven) Stichwortgeberin von Goethes "Hermann und Dorothea" wird.

So verlässt man lesend immer wieder die Zeitgeschichte, um im Alten Europa, in der antiken Mythologie zu landen. Man begegnet chinesischen Ingenieuren, die in Bremen die Vulkanwerft abbauen, Bankern der Lehman Brothers oder dem unrasierten Dominique Strauss-Kahn, der übernächtigt in New York abgeführt wird. Oft sind es Momentaufnahmen, an denen ein Leben sich wendet, zum Guten oder Schlechten oder sich die Konturen dieses Lebens aufzulösen drohen. Mit Vorliebe beobachtet Kluge solche Wendepunkte, in anekdotischer Knappheit eilt er von einer Daseinsform zur nächsten, wobei literarische Ausschweifung nicht seine Sache ist.

Seine Texte kennen kein biografisches Breitwandformat, sie sind kurz und knapp, oft im nüchternen Kanzleistil des gelernten Juristen gehalten, oft eilen sie novellistisch auf eine überraschende Wendung zu. Neben Anekdoten und moritatenähnlichen Erfahrungen wie der einer deutschen Zeitgenossin, die in London einem Auftritt Thilo Sarrazins beiwohnt, sind es Skizzen, die in einer funkelnden Pointe enden wie das Abendessen zwischen Niklas Luhmann, der gerade in Frankfurt am Main ein Seminar über "Liebe als Passion" gibt, und dem unglücklich verliebten Theodor W. Adorno, den er in diesem Wintersemester 1968/69 vertritt.

Immer im Ton eines protokollierenden Berichterstatters sammelt der Chronist Kluge Beiläufiges, die (autobiografische) Geschichte etwa, "Wie ich Thomas Manns Villa umschlich", ebenso wie Episoden, die sich mit Donnerhall in die Weltgeschichte eingeschrieben haben, die Nuklearkatastrophe von Fukushima bis zu den Schützengräben bei Verdun. Immer sind es Zeugnisse von Verletzungen, wie sie entstehen, wenn der einzelne auf die Härte der Verhältnisse trifft. Darin bleibt Kluge seinem bekannt aufklärerischen Gestus treu: Literatur so zu gestalten, dass man aus ihr lernen kann. So altmodisch dieses Programm auch sein mag, es hat nichts von seiner klassischen Wucht eingebüßt.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Alexander Kluge, Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012
564 Seiten, 34,95 Euro

Links bei dradio.de:

Die Gegenwart ist ein Kunstprodukt - Interview mit Alexander Kluge

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Buch der Woche: Alexander Kluge: "Das fünfte Buch. Neue Lebensläufe"
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