Wende im Umgang mit den Tätern

Von Beate Ziegs · 03.12.2008
Vor 50 Jahren nahm in Ludwigsburg die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen ihre Arbeit auf. Diese Institution sollte dem Ausland signalisieren, dass sich die Bundesrepublik ernsthaft um Vergangenheitsbewältigung kümmere. Doch Anspruch und Wirklichkeit klafften weit auseinander.
Kurt Schrimm: "Das Anklagen ist nicht so wichtig, sondern die Aufklärung ist wichtig. Und es gibt eine moralische Verpflichtung. Und zwar die Wiedergutmachung gegenüber den Opfern bzw. den Überlebenden. Wir nehmen ernst, was damals geschehen ist, und wir tragen das unsere dazu bei, dass sich solches nicht mehr wiederholen sollte."

Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, seit dem Jahr 2000 Leiter der 1958 gegründeten "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg.

Kurt Schrimm: "Es gibt in der neueren Geschichte keinen Fall, dass ein Staat, nachdem bereits viele Verantwortliche vom Sieger verurteilt worden waren, nochmals eigene Strafverfolgung betreibt gegenüber den eigenen Landsleuten. Und man konnte sich in vielen Kreisen nur sehr schwer an den Gedanken gewöhnen. 'Man muss jetzt endlich einen Schlussstrich ziehen, wir müssen aufbrechen zu neuen Ufern', diese Meinung war sehr weit verbreitet, auch unter Politikern."

Tatsächlich grenzt es fast an ein Wunder, dass die Zentrale Stelle 13 Jahre nach Kriegsende überhaupt ihre Arbeit aufnahm, denn zu dem Zeitpunkt war die Wiedereingliederung von NS-Funktionären schon sehr weit vorangeschritten. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte in seiner Regierungserklärung am 20. September 1949 unmissverständlich klar gemacht, dass seine vergangenheitspolitische Generalinventur zugunsten der Mitläufer und Täter ausfallen würde.

Konrad Adenauer: "Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, dass man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muss. Es wird daher die Frage einer Amnestie von der Bundesregierung geprüft werden. Und es wird weiter geprüft werden, auch bei den Hohen Kommissaren dahingehend vorstellig zu werden, dass entsprechend für von alliierten Militärgerichten verhängte Strafen Amnestie gewährt wird."

Noch bevor am 1. Juli 1951 das "Entnazifizierungsschlussgesetz" in Kraft trat, hatte der Deutsche Bundestag am 10. April desselben Jahres das "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" verabschiedet. Dieses sogenannte "131er-Gesetz" sicherte all denjenigen die Rückkehr in den öffentlichen Dienst, die auch bei der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 schon Beamte gewesen waren. Ausgenommen waren – zu-nächst – einige Haupttäter sowie Angehörige der Gestapo.

Sobald die Bundesrepublik Deutschland dann am 5. Mai 1955 ihre Souveränität erhielt, wurden alle Gesetze der Alliierten außer Kraft gesetzt, auch das Kontrollratsgesetz Nummer 10, das die Ahndung von Taten wie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorsah. Stattdessen galt nun wieder das Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1871, nach dem Mord gleich Mord war, auch wenn es sich um Völkermord handelte.

Überdies war Mord diesem Gesetz zufolge nach 20 Jahren verjährt, Totschlag sogar bereits nach 15 Jahren, also am 8. Mai 1960. Da gegen die meisten NS-Verbrecher wegen Totschlags ermittelt wurde, bedeutete dies für die Strafverfolgung, dass man die Ermittlungen nur genügend lange verschleppen musste, um sie in absehbarer Zeit ganz einstellen zu können. Damit schien der Schlussstrich tatsächlich gezogen, wenn nicht.

Wenn nicht ausgerechnet durch Konrad Adenauers überwältigenden Erfolg in der sogenannten "Heimkehrerfrage" das Thema der ungesühnten Verbrechen mit einem Schlag für Furore im Ausland gesorgt hätte. Die US-Botschaft zeigte sich besorgt, die westdeutsche Justiz könne "übersehen", dass sich unter den Russland-Heimkehrern auch 9.626 verurteilte deutsche Gefangene befinden, von denen 749 wegen besonders schwerer Kriegsverbrechen verklagt worden waren.

Die DDR sorgte mit ihrer Kampagne gegen die sogenannten "Blutrichter" für zusätzlichen Zündstoff.

Kundgebung auf dem August-Bebel-Platz 1957: "Die Mörder unserer deutschen und ausländischen Kameraden, die Blutrichter von damals, sind heute wieder in Amt und Würden. (Sie sind bereit, die Antimilitaristen und Friedenskämpfer von heute ...)"

Karl Schildern, Mitglied des Politbüros des ZK der SED sowie des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer, auf einer Kundgebung in Ostberlin. Ab 1957 gab das Politbüro die Namen von insgesamt 1000 ehemaligen NS-Juristen bekannt, die dem westdeutschen Staat als Richter oder Staatsanwälte dienten oder im Bundesjustizmimisterium arbeiteten. Da die Vorwürfe in den meisten Fällen zutrafen und sich deshalb nicht als bloße Propaganda abtun ließen, sorgten sie von London über Paris bis nach Washington und Tel Aviv für Aufsehen – nicht jedoch in Westdeutschland.

Auch nicht in der westdeutschen Presse. Die interessierte sich im Sommer 1958 nicht für die früheren Todesurteile amtierender Juristen, sondern für den Ulmer Prozess gegen das Einsatzkommando Tilsit. Zustande gekommen war er aufgrund der Unverfrorenheit des Maschinenbauers Bernhard Fischer-Schweder, einst Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP und Polizeidirektor von Memel. Wegen dieser Vergangenheit hatte er seine Stelle als Leiter eines Lagers für Ortsvertriebene in der Nähe von Ulm verloren und klagte nun gegen die Kündigung, zumal er doch als sogenannter "131er" ein Recht auf die Rückkehr in den Staatsdienst habe.

Bei dem Prozess stellte sich jedoch heraus, dass Fischer-Schweder nicht nur Polizeidirektor von Memel gewesen war, sondern auch Führer des Einsatzkommandos Tilsit und mitverantwortlich für die Ermordung von mindestens 5500 Juden und Kommunisten im deutsch-litauischen Grenzgebiet. So kam es zum Strafverfahren gegen Fischer-Schweder und neun weitere Angehörige der Polizei, der Gestapo und des Sicherheitsdienstes.

Aus einem Bericht über die Urteilsverkündung am 29. August 1958:

Bericht über Urteilsverkündung: "Noch nie packte mich so das kalte Grausen wie heute morgen im Schwurgerichtssaal des Ulmer Justizgebäudes, als der sogenannte "Einsatzkommando-Prozess Tilsit" zu Ende ging. Es war eine furchtbare Bilanz, die Landgerichtsdirektor Dr. Wetzel heute morgen verlas: In Garsden wurden 200 Männer und eine Frau zwischen 14 Jahren und dem Greisenalter erschossen und ohne ihren Tod festgestellt zu haben verscharrt. Kurze Zeit später 214 Männer. (Sie mussten vor ihrer Exekution ...)"

In ihren Schlussplädoyers hatten der Stuttgarter Oberstaatsanwalt Erwin Schüle und der Ulmer Staatsanwalt Fritz Schneider für die Hauptangeklagten – darunter auch Bernhard Fischer-Schwede – eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert. Der vorsitzende Richter vermochte jedoch keinen eigenständigen Täterwillen zu erkennen und verurteilte die Angeklagten nur wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord zu Zuchthausstrafen zwischen drei und fünf-zehn Jahren.

In den Medien und der Öffentlichkeit rief dieses niedrige Strafmaß heftigen Protest hervor, zumal der Historiker Hans-Günther Seraphim als Sachverständiger vor Gericht erläutert hatte, dass die Verweigerung eines Schießbefehls keineswegs mit dem Tod geahndet worden und auch nach damaligen Gesetzen rechtswidrig gewesen sei. Aber als Haupttäter galten lediglich Hitler, Himmler oder Heydrich, während Massenmörder wie Fischer-Schweder nur als ihre Gehilfen angesehen wurden – ein Rechtsverständnis, aufgrund dessen ein Großteil der NS-Verbrecher auch in späteren Prozessen mit auffallend niedrigen Strafen davon kamen.

Trotz dieser fatalen Weichenstellung für die nachfolgenden NS-Verfahren brachte der Ulmer Einsatzgruppenprozess die entscheidende Wende für die Strafverfolgung. Denn er hatte eine interessierte Öffentlichkeit nicht nur mit detaillierten Informationen über die Hintergründe der Judenvernichtung konfrontiert, sondern außerdem eindeutige Hinweise geliefert, dass Hunderte Täter bislang nicht vor Gericht gestellt worden waren. Die Kritik der Presse, aber auch von einigen wenigen engagierten Juristen wie dem baden-württembergischen Generalstaatsanwalt Erich Nellmann und seinem hessischen Kollegen Fritz Bauer, setzten die Justizminister der Länder derart unter Druck, dass diese im November 1958 den Beschluss fassten, eine Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen einzurichten.

Die dann auch tatsächlich am 1. Dezember 1958 in Ludwigsburg ihren Dienst aufnahm. Zum ersten Leiter wurde Erwin Schüle ernannt. Die personelle Ausstattung war mit zunächst nur neun Volljuristen bescheiden, denn man ging davon aus, dass die Arbeit in wenigen Jahren erledigt sei.

Vor allem aber waren die Kompetenzen der neuen Behörde äußerst begrenzt: Sie hatte keine autonomen staatsanwaltlichen Ermittlungsbefugnisse und auch keine Weisungsbefugnis. Sie konnte zwar Vernehmungen durchführen, nicht jedoch selbst anklagen. Ihre Vorermittlungen musste sie an reguläre Staatsanwaltschaften weitergeben, denen es oft an vertieften Sachkenntnissen mangelte. Außerdem waren die Ludwigsburger zunächst nur für solche NS-Verbrechen zuständig, deren Tatort außerhalb des Bundesgebietes lagen. Die Verbrechen der Justiz, die Morde in den Euthanasieanstalten und die Ermittlung gegen die sogenannten "Schreibtischtäter" im Reichssicherheitshauptamt waren ihnen entzogen.

Kein Wunder, dass der damalige Generalbundesanwalt Max Güde abwertend von einer "Briefkastenfirma" sprach.

Doch trotz ihrer beschränkten Möglichkeiten konnten die Ermittler schon kurz nach Beginn ihrer Tätigkeit erste Achtungserfolge melden: Am 9. Dezember 1958 wurde in Karlsruhe Erich Ehrlinger verhaftet, der nach dem Überfall auf die Sowjetunion zum Leiter eines in Litauen operierenden Einsatzkommandos ernannt worden war. Im Sommer 1959 wurde aufgrund der Ludwigsburger Ermittlungen der Präsident des Landeskriminalamts von Rheinland-Pfalz, Georg Heuser, festgenommen, der als ehemaliger SS-Hauptsturmführer an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Weißrussland beteiligt gewesen war.

Im Oktober desselben Jahres zog Baden-Württembergs Justizminister, Wolfgang Haußmann, eine stolze Bilanz.

Wolfgang Haußmann: "Bei der Zentralen Stelle, welche erst seit elf Monaten arbeitet, sind bisher ca. 400 Fälle anhängig geworden, von welchen etwa die Hälfte erledigt werden konnte. Es ist keineswegs so, wie man so oft hört, dass durch die Tätigkeit der Zentralen Stelle im Ausland unnötigerweise verheilte Wunden aufgerissen werden. Das Gegenteil ist der Fall. Das Ausland sieht in der Tätigkeit der Zentralen Stelle einen echten Beweis für die Rechtsstaatlichkeit unseres heutigen Staates. Denn Aufgabe der Zentralen Stelle ist es, an der Aufklärung scheußlicher Massentötungen mitzuarbeiten, also an Tötungsverbrechen, welche in den Kulturvölkern der ganzen Welt unter die schwersten Strafen gestellt sind."

Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ohne dessen unermüdlichen Einsatz der Frankfurter Auschwitz-Prozess nicht zustande gekommen wäre und der wesentlich zur Ergreifung Adolf Eichmanns beitrug, Fritz Bauer ging in seiner Beurteilung der Bedeutung der Arbeit der Zentralen Stelle wie überhaupt der Prozesse gegen NS-Verbrechen sogar noch einen Schritt weiter.

Fritz Bauer: "Es geht nicht nur um Strafprozesse. In Wirklichkeit geht es um einen ganzen Prozess deutscher Geschichte, um einen Prozess neuen Bewusstseins und Moralbildung in der Bundesrepublik. Im Grunde genommen müsste ich eigentlich sagen, es handelt sich um einen unendlichen Prozess. Aufgabe all dieser Prozesse ist im Grunde genommen, nicht nur Geschichte zu schreiben, sondern – wenn es vielleicht auch vermessen klingt – beizutragen, Geschichte zu machen."

An der Tagesordnung waren jedoch massive Behinderungen. Besonders aktiv hintertrieb das mit ehemaligen Nazis durchsetzte Auswärtige Amt die Strafverfolgung. Seine "Zentrale Rechtschutzstelle" ZHS verweigerte den Ludwigsburger Ermittlern nicht nur die Amtshilfe, sondern warnte überdies untergetauchte NS-Spitzenfunktionäre wie Klaus Barbie, den "Schlächter von Lyon", oder Alois Brunner, ehemaliger Kommandant des Sammellagers Drancy, vor einer drohenden Ver-haftung.

Die Aufklärung der Verbrechen in den deutschen Vernichtungslagern auf polnischem Territorium war ein Schwerpunkt der Ludwigsburger, dennoch untersagte die Bundesregierung ihnen Reisen nach Warschau, um die dortigen Archive auswerten zu können. In den Anfangsjahren war man deshalb auf die Zulieferarbeit von Privatpersonen angewiesen, allen voran dem Historiker Hanns von Krannhals sowie dem Schriftsteller und Regisseur Thomas Harlan. Am Beispiel des Vernichtungslagers Majdanek schildert Oberstaatsanwalt Streim, nach Erwin Schüle und Adalbert Rückerl der dritte Leiter der Zentralen Stelle, welche Auswirkungen solche Restriktionen auf den Ermittlungsprozess hatten.

Alfred Streim: "Wir haben schon 1960 das Verfahren nach Nordrhein-Westfalen abgegeben. Die kamen nicht weiter, weil Besetzungslisten des Konzentrations- und Vernichtungslagers fehlten. Wir haben uns bemüht, diese Listen zu bekommen, haben sie aber nicht bekommen. Wir haben uns auch bemüht, im Wege des Schneeballsystems den Kreis der Beschuldigten aufzuklären. Das ging auch nicht. Wir haben erst im Februar 1965 im Lager Majdanek selbst, als wir nach Polen fahren durften, diese ganzen Unterlagen gefunden. Dort lag alles. Und jetzt kam auf einmal das große Verfahren auf die Staatsanwaltschaft zu."

Erst 1975, 16 Jahre nach Beginn der Vorermittlungen durch die Zentrale Stelle, wurde der Majdanek-Prozess vor dem Düsseldorfer Landgericht eröffnet. Nach der Anhörung von 350 Zeugen im In- und Ausland endete er 1981 mit dem Freispruch von acht der insgesamt 16 Angeklagten.

Barbara Just-Dahlmann: "Was ich in der einen Woche zur Kenntnis bekam, das war ungeheuerlich. Da waren ja die grausigsten Dinge von Kindern, die lebendig verbrannt wurden, bis zu Juden, die zu Seife verkocht wurden in der Gegend von Danzig. Ich sage es bewusst mal so krass, damit Sie verstehen, warum ich von diesem Problem so gefressen bin."

Die Staatsanwältin Barbara Just-Dahlmann wurde im Mai 1960 für fünf Tage nach Ludwigsburg abgeordnet, weil sie ursprünglich aus Posen stammte und perfekt die polnische Sprache beherrschte. Ihre Aufgabe bestand unter anderem darin, Inhaltsangaben von Zeugenprotokollen anzufertigen. Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum im November 1961 zum Thema "Politische Prozesse heute" schockierte Barbara Just-Dahlmann ihre Zuhörer mit der ausführlichen Beschreibung von Tötungssituationen und der detaillierten Wiedergabe von Täter- und Opferreaktionen. Und sie kritisierte das (Zitat:) "absonderliche Verhalten" mancher mit der Zentralen Stelle kooperierenden Justizbehörden und insbesondere der Landeskriminalämter.

"Normalerweise gibt die Staatsanwaltschaft einen Verhörbefehl an die Polizeidienststelle X. Nun geschieht es aber, dass gerade die Polizeidienststelle durchsetzt ist von Personen, die von der Zentralen Stelle zu verhaften wären."

Diese Äußerung sorgte bis ins Bonner Justizministerium für Unmut, so dass Baden-Württembergs Justizminister Wolfgang Haußmann sich beeilte, Barbara Just-Dahlmann eine schwere dienstliche Verfehlung vorzuwerfen und "dienstrechtliche Folgerungen" anzudrohen – die dann aber doch nicht umgesetzt wurden.

Auch der Ludwigsburger Behördenchef Erwin Schüle weigerte sich, seiner Mitarbeiterin Rückendeckung zu geben, obwohl er wenige Monate zuvor auf einer Tagung von Generalstaatsanwälten selbst eine alarmierende Analyse zur Situation im Polizeidienst gegeben und den Versammelten die eher rhetorisch gemeinte Frage gestellt hatte:

"Mit welchem moralischen Recht verfolgt ein Mann, an dessen Händen das Blut von hunderten und tausenden Unschuldigen klebt, einen Mörder unserer Tage?"

Starke Worte, denen jedoch keine Taten folgten, als es darum ging, seine Kollegin Just-Dahlmann darin zu unterstützen, die Probleme der NS-Strafverfolgung aufzuzeigen – und sie dadurch vielleicht sogar aus der Welt zu schaffen.

Annette Weinke: "Die Diskussion um die sogenannten "Alten Kameraden" bei Polizei und Justiz war sicherlich eine Diskussion, in der Ludwigsburg keine gute Figur gemacht hat."

Die Berliner Historikerin Annette Weinke.

Annette Weinke: "Der Sachverhalt war im Prinzip bekannt, er war auch schon Gegenstand der westdeutschen Medienberichterstattung gewesen. Insofern war die Art und Weise, wie man mit der Kritikerin und Mitarbeiterin Barbara Just-Dahlmann umgegangen ist, eine große Peinlichkeit, denn sie war eigentlich jemand, der versucht hat, den Finger in die Wunde zu legen und diese schwache Stellung von Ludwigsburg zu verbessern."

In ihrem Buch Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst, das jetzt anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Zentralen Stelle erschienen ist, schildert Annette Weinke auch die Versäumnisse der Ludwigsburger Zentralstelle.

Annette Weinke: "Es gab in Ludwigsburg – vor allem aber in Stuttgart, beim Landesjustizministerium – kein Gespür dafür, dass man durch eine positive Öffentlichkeitsarbeit die Arbeit dieser Stelle hätte nachhaltig unterstützen können. Also da war es schon so, dass man versuchte, den Deckel drauf zu halten und eigentlich sich darauf zu beschränken, seine Statistiken am Ende des Jahres zu verkünden. Das ganze sollte schnell gehen, das ganze sollte geräuschlos gehen und sollte dann mehr oder weniger sang- und klanglos nach einigen Jahren abgewickelt werden. Das ganze wurde ja immer unter dieses Verdikt des Sonderrechts gestellt, was man auf keinen Fall wollte."

Stattdessen fasste die Bundesregierung Ende 1964 den Beschluss, nicht an der damaligen Gesetzeslage zu rühren, nach der jene NS-Verbrechen, die den Tatbestand des Mordes erfüllten, im Mai 1965 verjährt sein würden. Der bereits seit 1963 laufende Auschwitz-Prozess sollte das letzte große Verfahren dieser Art sein.

Schützenhilfe erhielt das Parlament ausgerechnet vom Ludwigsburger Behördenchef Erwin Schüle, der sich offen gegen eine Verlängerung der Verjährung aussprach.

Erwin Schüle: "Ich hielte es für falsch, die Verjährungsfrist nun durch ein Sondergesetz zu verlängern. Sondergesetze, das war es, was die Nationalsozialisten hervorgebracht haben. Wir sollten und müssen uns, gerade weil wir die Taten eines Unrechtsregimes verfolgen, streng an rechts-staatliche Grundsätze halten."

Beruhte diese Äußerung nur auf einer unverständlichen Fehleinschätzung der Sachlage? Wenige Wochen später meldete die DDR-Nachrichtenagentur ADN, dass Erwin Schüle selbst Mitglied der NSDAP und der SA gewesen war. Als Leiter der obersten NS-Ermittlungsbehörde war er nun nicht mehr tragbar. Er kehrte nach Stuttgart zurück und setzte sich in seiner späteren Funktion als Chefankläger der Rote Armee Fraktion vehement für Sondergesetze wie Isolationshaft und Kontaktsperre ein.
Dem Ruf der Zentralen Stelle fügte der Skandal um Schüles Vergangenheit keinen bleibenden Schaden zu. Im Gegenteil: Unter seinen Nachfolgern Adalbert Rückerl und Alfred Streim erwarb sie sich vor allem in den vom Naziterror heimgesuchten Ländern Osteuropas ein so hohes Ansehen, dass Alfred Streim sogar mit dem Offizierskreuz der polnischen Republik ausgezeichnet wurde.

Und auch für die Verjährungsdebatte waren Schüles Stellungnahmen nicht ausschlaggebend, denn erneut nötigten Proteste aus dem Ausland und die Kritik in den Medien die Bundesregierung zum Umdenken. Als Folge bat sie im November 1964 in einem Aufruf an (Zitat:) "alle Regierungen, Organisationen und Einzelpersonen im In- und Ausland", das in ihrer Hand befindliche, in der Bundesrepublik jedoch bis dahin unbekannte Material über NS-Verbrechen und deren Täter der Zentralen Stelle zur Verfügung zu stellen. Noch am selben Tag beschlossen die Landesjustizminister, die Zuständigkeit der Behörde auf Verbrechen auszuweiten, die auf dem Territorium des sogenannten "Dritten Reiches", also auch im Gebiet der Bundesrepublik, begangen worden waren. Auf Amtshilfe von Seiten der DDR, wo sich viele der ehemaligen Lager der Wehrmacht befanden, wartete man in Ludwigsburg allerdings vergebens: Zur Jahreswende 1964/65 kündigte Ost-berlin die Zusammenarbeit einseitig auf.

Immerhin war es den Ludwigsburgern nun erlaubt, in polnischen Archiven zu recherchieren. Ihr Eindruck von dem immensen Umfang der Gerichtsakten, Urkunden, Berichte oder Tagebuchaufzeichnungen war so umwerfend, dass jeder Gedanke an eine Verjährung absurd erscheinen musste. Eine Einschätzung, zu der schließlich auch die Mehrheit des deutschen Bundestags gelangte. Am 10. März 1965 verlängerte er die strafrechtliche Verjährungsfrist von Mord bis zum Ende des Jahres 1969.

Das Personal der Zentralen Stelle wurde aufgestockt, so dass zeitweise 49 Staatsanwälte und Richter für sie arbeiteten. Polizeiliche Unterstützung erhielt sie von eigens zu diesem Zweck bei den Landeskriminalämtern eingerichteten Sonderkommissionen. Zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik waren damit die Voraussetzungen für eine breite und systematische Aufklärung von NS-Verbrechen gegeben. Zwischen 1967 und 1971 wurden von den Ludwigsburgern mehr als 600 Vorermittlungsverfahren gleichzeitig bearbeitet.

Die Schattenseite dieses Erfolgs war, dass die Mitarbeiter der Zentralen Stelle als Nestbeschmutzer beschimpft und von Schmähbriefen überschüttet wurden. Dieter Kuhlbrodt über seine Zeit als Staatsanwalt bei der Zentralen Stelle:

Dieter Kuhlbrodt: "Vor unseren Fenstern zog an irgendeinem Tag mit klingendem Spiel die Bundeswehr vorbei, denn der SS-General Sepp Dietrich wurde zu Grabe getragen. Und dann reckten sich Fäuste und wir hörten Rufe: 'Wir kriegen euch noch!' Das war Ludwigsburg 1966."

Vor allem die zunehmende Zusammenarbeit der Zentralen Stelle mit den Ländern des Ostblocks war vielen ein Dorn im Auge. Als im September 1968 eine Arbeitsgruppe zum ersten Mal zur Akteneinsicht nach Moskau reiste, ließ es sich der ehemalige Generalbundesanwalt und damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Max Güde nicht nehmen, dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" mitzuteilen:

"Wenn die Russen 20 Jahre lang in böser Absicht Beweismaterial verweigern, dann (…) ist der Höhepunkt an Dummheit erreicht, wenn unsere Idioten trotzdem hinfahren und das Zeug abholen."

1969 verschob der Bundestag erneut die Verjährung, dieses Mal um zehn Jahre. 1979 beschloss er dann mit 255 zu 222 Stimmen, die Verjährung für Mord und Völkermord gänzlich aufzuheben. Für die Arbeit der Ludwigsburger brachte das keine Vorteile mehr, denn bereits im Oktober 1968 war mit der Neufassung des Paragraphen 50 Absatz 2 des Strafgesetzbuches die "kalte Amnestie" durchgesetzt worden.

Denn die Gesetzesänderung sah vor, dass Mordgehilfen, die ohne Täterwillen handelten und deren Taten weder grausam noch heim-tückisch waren, nur noch wegen Beihilfe zu höchstens 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt werden konnten. Die Verjährungsfrist für Beihilfe war jedoch schon 1960 abgelaufen. Quasi über Nacht mussten zahlreiche Verfahren eingestellt werden, darunter 18 Verfahren gegen rund 300 ehemalige Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes. Die Anzahl der von der Zentralen Stelle bearbeiteten Vorermittlungen ging rapide zurück. Das sollte sich 1994 mit einem Schlag ändern, als der römische Militärstaatsanwalt Antonino Intelisano im Palazzo Cesi, dem Sitz der All-gemeinen Militäranwaltschaft in Rom, einen braunen Holzschrank umdrehte, der bis dahin mit der Tür zur Wand gestanden hatte und eigens mit einem Eisengitter abgesichert war. Intelisano hatte den sogenannten "Schrank der Schande" entdeckt. Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle:

Kurt Schrimm: "Nach dem Abfall Italiens von den Achsenmächten fanden vor allem in Oberitalien zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung statt. Die italienischen Behörden haben Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre begonnen, dies strafrechtlich aufzuarbeiten – bis dann 1952/53 diese Schlussstrich-Mentalität auch in Italien einkehrte. Und dann haben sich die italienischen Militärstaatsanwaltschaften daran gemacht, diese Akten neu aufzuarbeiten. So wurden die Akten auch bei uns bekannt und werden von einem Mitarbeiter von mir seit drei oder vier Jahren abgearbeitet."

695 Fälle wurden von den italienischen Militärstaatsanwaltschaften neu aufgerollt, darunter der des SS-Hauptsturmführers Erich Priebke. 1995 wurde Priebke von Argentinien nach Italien überstellt und 1998 von einem römischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt, die aufgrund seines hohen Alters in Hausarrest umgewandelt wurde.

Außer Italien gehören zu den Hauptquellen der Zentralen Stelle die Archive der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem und des amerikanischen Holocaust-Museums in Washington. Über 20 Ermittlungsverfahren werden von dem kleinen Team um Kurt Schrimm derzeit geführt. Sie betreffen auch die beiden meistgesuchten NS-Schergen, den österreichischen SS-Arzt Aribert Heim und den ukrainischen KZ-Aufseher Iwan Demjanjuk. Heim soll vor wenigen Monaten in Argentinien gesehen worden sein, während Demjanjuk in den USA lebt. Die amerikanische Staatsbürgerschaft wurde ihm bereits aberkannt. Pünktlich zum 50jährigen Jubiläum der Zentralen Stelle konnte Kurt Schrimm jetzt die Ermittlungsakte an die Staatsanwaltschaft München übergeben, auf dass diese die Ausweisung Demjanjuks beantragen und Anklage erheben möge. Kurt Schrimm ist überzeugt, dass seine Behörde gute Vorarbeit dafür geleistet hat.

Wie so oft. Genauer genommen in über 7360 Vorermittlungsverfahren gegen insgesamt etwa 106.500 Personen, von denen allerdings weniger als 6.500 rechtskräftig verurteilt wurden – in den meisten Fällen wegen Beihilfe. Der Zentralen Stelle kann dieses magere Ergebnis jedoch am wenigsten angelastet werden. Kurt Schrimms Bilanz nach 50 Jahren Aufklärungsarbeit durch die Ludwigsburger Behörde fällt deshalb positiv aus, zumal die in den knapp 300.000 Dokumenten archivierten Aussagen von Tätern und Opfern von unschätzbarem Wert für die historische Forschung in der Bundesrepublik sind, die die systematische Befragung von Zeitzeugen des sogenannten "Dritten Reiches" lange Jahre weitestgehend vernachlässigt hat.

Kurt Schrimm: "Es gibt immer noch Vorfälle, Taten, die wir nicht kennen. Die wird es immer geben; wir werden nie alles aufklären können. Und es wurden Fehler gemacht bis in die 90er Jahre, ganz sicherlich. Aber das Positive ist, dass überhaupt versucht wurde, das aufzuarbeiten. Und es hat mir persönlich unheimlich viel gebracht, dass es mir möglich war, mit Augenzeugen zu sprechen. Nicht auf Bücher angewiesen zu sein, nicht aus drittem Munde zu hören, was andere eruiert haben, sondern mit vielen, zahllosen Leuten gesprochen zu haben, die gesagt haben: 'Ich habe das gesehen, ich war dabei.' Das ist ein ungeheurer persönlicher Gewinn für mich."