Weltweite Fahndung nach dem seltensten Vogel

Norbert Schäffer im Gespräch mit Katrin Heise · 09.05.2012
Zuletzt wurde der Dünnschnabelbrachvogel vor 15 Jahren gesehen, sagt Norbert Schäffer, Artenschutzbeauftragter der britischen Vogelschutzorganisation RSPB. Eine Gruppe von Experten stehe "Gewehr bei Fuß", um internationalen Hinweisen sofort nachgehen zu können. Es wäre die erste Vogelart in Europa, die vor 100 Jahren noch regelmäßig vorkam und bei vergeblicher Suche als ausgestorben gelten müsse.
Katrin Heise: Seit einigen Jahren läuft von London aus eine weltweite Großfahndung, ohne dass die Öffentlichkeit bisher groß Notiz davon genommen hat. In 32 Ländern der Welt wurde intensiv nach ihm gesucht, dabei weiß man gar nicht so genau, ob er überhaupt noch existiert – der Dünnschnabelbrachvogel. Er ist wahrscheinlich der seltenste Vogel der Welt. Die letzte wissenschaftlich anerkannte Sichtung, also dass man ihn gesehen hat, das war im Februar 1995, und zwar in Marokko, zwei Exemplare, die sind dann auch fotografiert worden. Sollte der Vogel nicht mehr gefunden werden, dann müsste man ihn als ausgestorben deklarieren, doch das wollen die Experten noch lange nicht, sich abfinden mit so einem Verlust. In der Zentrale der britischen Vogelschutzorganisation RSPB – Royal Society for the Protection of Birds – wird die Suche nach ihm koordiniert. Der Biologe Norbert Schäffer leitet das Department Internationale Biodiversitätsprojekte in der Abteilung für Naturschutzpolitik und Artenschutz der RSPB. Ich grüße Sie, Herr Schäffer!

Norbert Schäffer: Grüße Sie!

Heise: Es steht schlecht um den Dünnschnabelbrachvogel, oder?

Schäffer: Es steht sehr schlecht, wie schlecht, wissen wir nicht genau. Wir haben den Vogel seit, ja, mittlerweile über 15 Jahren nicht mehr gesehen, wir haben keine sicheren Nachweise – rein formell könnten wir eigentlich beantragen, ihn jetzt als ausgestorben zu erklären, aber wir haben immer noch Hoffnung, dass es diesen Vogel doch noch gibt.

Heise: Wie sucht man eigentlich gezielt nach einem Zugvogel, denn er ist ja ein Zugvogel?

Schäffer: Wir wissen sehr, sehr wenig über den Dünnschnabelbrachvogel. Wir wissen, dass er wohl in Sibirien brütet. Es gibt nur einen einzigen Brutnachweis in der Nähe von Omsk. Dort zu suchen, da sind die Flächen einfach zu groß. Wir wissen dann, wo die Überwinterungsquartiere lagen in der Vergangenheit, dort haben wir den Vogel nicht mehr gefunden, und wir konzentrieren uns jetzt auf die Durchzugsgebiete in etwa 30, 35 Ländern und hoffen einfach, dass unsere Ehrenamtler, die im Gelände sind, irgendwann tatsächlich den Vogel doch noch finden.

Heise: Ja, was heißt das eigentlich – Suche? Das wollte ich nämlich genau wissen, wer sich daran beteiligt. Kämmen da Freiwillige – Sie sagen Ehrenamtliche – denn die Wälder durch?

Schäffer: Das sind nicht Wälder, das sind vor allem Feuchtgebiete, wobei der Vogel bis zu zwei Kilometer von Feuchtgebieten weggeht. Sie kennen vielleicht den großen Brachvogel – der Dünnschnabelbrachvogel ist etwas kleiner, sieht ähnlich aus wie der große Brachvogel, der ja auch in Deutschland brütet.

Heise: Also wenn er ähnlich aussieht, ist er offenbar auch nicht leicht zu erkennen, denn sie suchen ja genau den und nicht den anderen.

Schäffer: Wir suchen den Dünnschnabelbrachvogel, der ist tatsächlich, zumindest auf die Entfernung, schwer zu identifizieren. Wir haben Material produziert, indem wir zeigen, wie man diesen Vogel identifizieren kann, und dieses Material in viele, viele Sprachen einschließlich Arabisch übersetzt, und das dann weit verteilt. Es gibt durchaus Leute, die ihn identifizieren können oder uns zumindest einen Hinweis darauf geben können, und darauf warten wir. Und sollten wir dann tatsächlich davon ausgehen, dass es da draußen, dass es zu einer glaubhaften Beobachtung kam, dann werden wir unsere Maschinerie in Gang setzen.

Heise: Was heißt das, Maschinerie in Gang? Was passiert dann, wenn jetzt jemand anruft bei ihnen in der Zentrale und sagt, ich glaube, ich habe den gesehen?

Schäffer: Das ganze klingt sehr militärisch, ist auch im Prinzip so geplant. Also wir haben eine Gruppe von Leuten zusammengestellt, die diesen Vogel tatsächlich identifizieren können, die stehen Gewehr bei Fuß. Innerhalb von wenigen Stunden kann diese Gruppe, das sind sieben Leute, aufgrund von Fotos oder von Tonbandaufnahmen tatsächlich sagen, ob es ein Dünnschnabelbrachvogel ist oder nicht. Dann würden wir innerhalb von einem Tag ein Team rausfliegen, wo auch immer der Vogel dann ist, um dann im Gelände tatsächlich zu verifizieren, das ist ein Dünnschnabelbrachvogel. Wir haben dann eine Gruppe von Leuten, die versuchen würden, den Vogel zu fangen, was nicht einfach wäre, aber es ist mit anderen Arten gemacht worden. Wir gehen also davon aus, dass wir eine gute Chance hätten, tatsächlich auch dieses Individuum dann zu fangen, diesen Dünnschnabelbrachvogel. Wir würden ihn mit einem Satellitensender ausstatten, das ist ein fünf Gramm schwerer Sender, der uns dann erlaubt, den Vogel zu verfolgen, wie er weiterzieht, und hoffentlich dann uns den Weg in die Brutgebiete zeigt, und vielleicht ...

Heise: Denn wo einer gefunden ist, da werden dann irgendwann auf seinem Weg auch mal andere sein hoffentlich.

Schäffer: Darauf würden wir hoffen. Wir haben dann das erste Mal die Möglichkeit, tatsächlich gezielt nach dem Brutgebiet zu suchen, und hoffen natürlich, dass es dort mehr gibt.

Heise: Über die weltweite Fahndung nach einem seltenen Vogel berichtet der Biologe Norbert Schäffer. Herr Schäffer, warum ist der Dünnschnabelbrachvogel eigentlich so wichtig, dass so ein Aufwand betrieben wird?

Schäffer: Wenn der Dünnschnabelbrachvogel ausstirbt – der war früher mal ein relativ häufiger auf dem Zug in Europa –, wenn er ausstirbt, dann ist das die erste Vogelart, die ausstirbt seit dem Riesenalk 1844, die erste Vogelart, die in Europa regelmäßig vorkam und dann ausgestorben ist. Das ist zunächst mal – ja, kann man sich immer noch fragen, so what, wie die Engländer sagen. Ich könnte Ihnen jetzt viel erzählen über den Lebensraum des Dünnschnabelbrachvogels, dass natürlich viele andere Arten daran hängen. Ich könnte Ihnen was erzählen, dass vielleicht sogar ein ökonomischer Wert darin wäre, dass man vielleicht ein Krebsmittel findet durch den Dünnschnabelbrachvogel, und so weiter – das wissen wir alles nicht. Mir persönlich geht es einfach darum: Wenn dieser Dünnschnabelbrachvogel ausstirbt, dann haben wir einen Punkt überschritten, den wir nicht rückgängig machen können. Wenn uns diese Art ausstirbt, dann ist sie für immer ausgestorben.

Heise: Ich habe gelesen, und Sie haben es eben ja auch schon angedeutet, dass er früher gar nicht so selten war, also in den 60er-Jahren vor allem, da soll er überhaupt nicht selten gewesen sein. Warum ist er denn so stark in Bedrängnis geraten?

Schäffer: Also der Dünnschnabelbrachvogel ist schon seit etwa um die 100 Jahre relativ selten, aber war davor doch recht häufig, ist oft geschossen worden. Es gibt viele Nachweise in Museen, es war durchaus eine weit verbreitete Vogelart. Die Jagd und vielleicht die Lebensraumzerstörung hat dazu geführt, dass diese Art unter Umständen völlig verschwunden ist. Aber wir wissen es nicht – wir wissen es nicht, weil wir nicht genau wissen, wo dieser Vogel tatsächlich brütet.

Heise: Wenn man eigentlich so wenig von dem Vogel weiß, wie fängt man denn dann so eine Suche an?

Schäffer: Wir haben das Ganze, die Suche, so breit angesetzt wie möglich. Wir haben zunächst mal nachgesehen, wo Museumsexemplare vorhanden sind, wir haben alle alten Nachweise zusammengetragen. Und wir haben auch die Federn von Museumsexemplaren analysiert, die, sage ich jetzt mal ganz einfach oder stark vereinfacht, die Einlagerung von stabilen Isotopen in diese Federn, das ist so etwas wie ein Fingerabdruck, der uns zeigt, wo der Vogel gelebt hat, als er diese Federn entwickelt hat. Wenn wir also einen Vogel, einen Jungvogel im Museum haben, und analysieren die Federn – die Federn wurden ja im Brutgebiet entwickelt, dann können wir darauf schließen, dann haben wir Möglichkeiten, das Brutgebiet grob einzugrenzen.

Heise: Sie haben vorhin gesagt, dass Sie schon ganz persönlich auf keinen Fall den Dünnschnabelbrachvogel aufgeben wollen. Aber irgendwann muss man diese teure Suche ja vielleicht doch einstellen. Wann ist das der Fall?

Schäffer: Ob wir den Vogel dann jemals aufgeben, ja, das ist nicht meine Entscheidung, aber nach, sage ich mal, 20, 30, 40 Jahren ohne jeglichen Nachweis, obwohl mehr und mehr Vogelbeobachter in diese Länder fahren, muss man sich sicherlich Gedanken machen, ob man formell den Vogel dann als ausgestorben erklärt.

Heise: Ja, wahrscheinlich gibt es ja auch die Kritik, dass Geld und Aufwand für die Rettung einer Art eingesetzt werden könnte, wo ganz anders, um vielleicht Lebensräume zu erhalten und damit ganz andere Arten schützen zu können. Wo ist denn da die Grenze?

Schäffer: Der Aufwand ist natürlich sehr groß, aber er ist vor allem zeitlich sehr groß. Es ist weniger ein finanzieller Aufwand. Ja, da muss man sich natürlich grundsätzlich Gedanken machen über die Schwerpunktsetzung im Naturschutz. Ich sehe aber nicht, dass andere – sei es Lebensräume, andere Arten –, insgesamt andere Naturschutzziele darunter leiden, dass wir uns um den Dünnschnabelbrachvogel kümmern, ganz im Gegenteil, der Dünnschnabelbrachvogel hilft uns natürlich auch, so ein bisschen in die Öffentlichkeit zu bringen, dass es diese Arten gibt, die vor dem Aussterben stehen, und dass das Aussterben, das völlige, das weltweite Verschwinden von Arten nichts ist, was die Saurier betrifft, sondern dass es tagtäglich stattfindet.

Heise: Gibt es eigentlich manchmal wirklich häufiger Arten, die in ganz kurzer Zeit stark dezimiert werden oder vielleicht auch wirklich ganz aussterben?

Schäffer: Das gibt es zuhauf. Eine berühmte Vogelart diesbezüglich ist die Wandertaube, wo das letzte Individuum in einem Zoo 1914 verstorben ist, in Cincinnati. Das war eine Vogelart, die wohl einmal die häufigste Vogelart überhaupt war, es gab Schwärme mit vielen Milliarden Vögeln, und in wenigen Jahrzehnten ist der Vogel völlig verschwunden und ist jetzt weltweit ausgestorben. Wie gesagt, der letzte Vogel vor fast genau 100 Jahren im Jahr 1914, da haben Wissenschaftler zugeguckt, wie der Vogel tatsächlich dann in einer Voliere verstorben ist.

Heise: Können Sie eigentlich auch – Sie klingen schon sehr deprimiert, was diese Suche angeht –, können Sie auch von Erfolgserlebnissen berichten? Wurde schon mal eine Vogelart auf diese Art und Weise, wie Sie sie vorhin geschildert haben, gerettet?

Schäffer: Es gibt mehrere Vogelarten, die weltweit bedroht sind, die ohne die Arbeit der Naturschutzverbände ausgestorben wären, dazu gehört zum Beispiel der Azorengimpel auf den Azoren, der ähnlich aussieht wie unser europäischer Gimpel. Ähnliches gilt für den Zeckenrohrsänger, der ja auch in Deutschland noch in sehr kleiner Zahl brütet. Beim Steppenkiebitz, der galt auch als vom Aussterben bedroht, wir dachten, dass der Bestand nur noch wenige Hundert Brutpaare ist, der Weltbestand – der Vogel brütet in Kasachstan. Wir haben dort Vögel gefangen – wir wussten, wo sie brüten –, wir haben dort Vögel gefangen, haben sie mit Satellitensendern ausgestattet und verfolgt, und wir haben dadurch gelernt, dass es viel mehr Steppenkiebitze gibt, als wir dachten. Wir haben große Schwärme gefunden. Zu einer Zeit, als wir dachten, es gibt nur noch wenige Hundert, haben wir einen Schwarm gefunden mit 3.200 Vögeln in der Türkei, nur durch diese besenderten Vögel, die uns zu diesem Schwarm geführt haben. Wir haben auch gelernt, dass der Vogel vor allem darunter leidet, dass im Mittleren Osten sehr intensiv geschossen wird, und können jetzt dagegen vorgehen. Das ist durchaus eine Erfolgsgeschichte.

Heise: Auf der Suche nach seltenen Vögeln, besonders nach dem Dünnschnabelbrachvogel. Von dieser Suche berichtet der Biologe Norbert Schäffer. Ich danke Ihnen, Herr Schäffer, und dann wünsche ich, ja, uns allen eigentlich viel Glück bei der Suche!

Schäffer: Gern geschehen!

Heise: Und heute Nachmittag, da gehen wir in unserer Vogelschau einem vermeintlichen Widerspruch auf den Grund, nämlich wie die Homo-Ehe im Vogelnest das eigene Überleben sichern kann.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links bei dradio.de:

Da fliegen sie wieder! -
Die Große Vogelschau im Deutschlandradio Kultur vom 7.-12. Mai 2012