Weltumspannende Ideologie

Rezensiert von Hubertus Knabe · 01.08.2010
Wie in ihrem "Schwarzbuch" lassen Courtois und seine Mitarbeiter keinen Zweifel daran, dass sie den Kommunismus für eine mörderische Ideologie halten. Sie ziehen die Bilanz einer Idee und Praxis, die ein besseres Leben für nahezu alle Menschen versprach.
Das "Handbuch des Kommunismus", an dem verschiedene französische Wissenschaftler mitgearbeitet haben, ist eine umfassende Darstellung von Idee und Praxis des Kommunismus, der wie keine andere Ideologie das vergangene Jahrhundert geprägt hat.

Die knapp 100 Seiten lange Einführung reicht von der Entstehung der kommunistischen Idee über die französischen Revolutionen bis zur Gründung der Sowjetunion, zur weltweiten Ausbreitung und schließlich zum Untergang des Kommunismus in Europa. Klaus Schroeder und Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin haben für die deutsche Ausgabe zusätzliche 60 Seiten über den Kommunismus in Deutschland geschrieben. Sie schließen ihren Text mit den Worten:

"Attraktivität und Verführungskraft einer kommunistischen Ideologie sind immer noch gegeben, verspricht sie doch eine bessere Welt für nahezu alle Menschen. (…) Kommunisten wähnen sich weiterhin im Besitz der ‚Wahrheit‘ und glauben an die Befreiung der Menschheit. Tatsächlich legitimieren sie nur Unterdrückung und – was vielleicht noch schlimmer wiegt - Entindividualisierung und Versklavung im Namen einer seelenlosen Utopie."

Den Hauptbestandteil des Buches machen die rund 700 Seiten Begriffserläuterungen aus. Hier erfährt der Leser, wie sich der Kommunismus in Afrika und China ausgebreitet hat oder was es mit der Entstalinisierung, der Geheimpolizei oder der Kollektivierung auf sich hatte. Auch ideologische Kampfbegriffe wie "Antiimperialismus", "Arbeiterklasse" oder "friedliche Koexistenz" werden erläutert. Einige kommunistische Führungsfiguren von Fidel Castro bis Zhou Enlai werden ebenfalls vorgestellt.

Beeindruckend ist, wie schon beim "Schwarzbuch des Kommunismus", der globale Ansatz des Handbuches. Während das kommunistische System sonst oft nur aus der Perspektive eines Staates oder bestenfalls des sowjetischen Blocks betrachtet wird, entwickelt das Handbuch eine weltumspannende Perspektive. Dabei werden auch viele unbekannte Details behandelt, von den zahlreichen Konkubinen Maos bis zu Lenins "Labor für Toxikologie", das Mordanschläge auf politische Gegner ausführte.

Deutlich wird dabei vor allem, wie der Kommunismus, trotz aller nationalen und zeitbezogenen Unterschiede, aus einer gemeinsamen Quelle gespeist wird: der Idee, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft werden müsse, was nur durch eine Diktatur möglich sei. Courtois und seine Mitautoren lassen keinen Zweifel daran, dass es diese Idee ist, die den Kommunismus zu einer der mörderischsten Ideologien der Weltgeschichte gemacht hat. Über die Rolle der Gewalt schreiben sie:

"Lenin und seine Nachfolger rechtfertigten den Terror immer mit den Umständen (…) Tatsächlich wurde der Terror als legitimes und normales Instrument der Regierung eingesetzt. Er zielte nicht nur auf die Ausschaltung politischer Feinde, sondern auch auf die Auslöschung ganzer gesellschaftlicher Gruppen (…)"

Etwas inkonsistent wirkt die Auswahl der Begriffe. Das Spektrum reicht von Propagandaworten wie "Großer Vaterländischer Krieg" über neutrale Bezeichnungen wie "Industrialisierung" bis hin zu eher umgangssprachlichen Begrifflichkeiten wie "Führungsriege". Manche Standardbegriffe wie zum Beispiel "Planwirtschaft" fehlen, andere, kaum bekannte - wie "Laogai", eine Bezeichnung für das chinesische Lagersystem - fanden hingegen Aufnahme. Manchmal stößt man auch auf Wiederholungen, etwa zum Hitler-Stalin-Pakt. Ein wenig unbefriedigend ist schließlich die Auswahl der Biografien, die zum Beispiel den Koreaner Kim Il-Sung berücksichtigt, aber keinen einzigen kommunistischen Führer aus der DDR.

Ungewöhnlich für ein wissenschaftliches Handbuch ist auch, dass die Texte teilweise die lexikografische Form verlassen. Einzelne Formulierungen sind stark wertend, zuweilen sogar geradezu blumig oder essayistisch. So heißt es über die chinesische Kulturrevolution:

"Umgeben von Ehrgeizlingen und Schmeichlern, bestärkt in seiner Leistungsfähigkeit und glücklich, dass er mit den Tugendhaften und Gelehrten fertig geworden ist, gestaltet der allmächtige Mao mit der Leichtigkeit eines Halbgottes sein Land um. Beflügelt wird er dabei von einem Kult, den die Jugend und zwangsläufig auch die übrige Bevölkerung um seine Person betreiben."

Hinzu kommen einige sprachliche Unbeholfenheiten, die möglicherweise eine Folge der Übersetzung aus dem Französischen sind - wenn zum Beispiel der ungarische Staatssicherheitsdienst fälschlicherweise als "Behörde für die Selbstverteidigung" bezeichnet wird. Manchmal stößt man auch auf sachliche Fehler, wenn etwa behauptet wird, Hitler hätte in Moskau den Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Verständlich, aber für den deutschen Leser eher irritierend ist, dass dem französischen Kommunismus ungewöhnlich viel Platz eingeräumt wird.

Am Ende fragt man sich, ob man wirklich ein Handbuch vor sich hat, zu dem man greift, wenn man in komprimierter Form etwas über einen bestimmten Begriff wissen will. Andererseits ist Courtois’ neues Werk aber auch nicht so aufgebaut, dass man es in einem Stück durchliest. Vielleicht sollte man es so benutzen, wie man heutzutage Fernsehen schaut: Man "zappt" von Beitrag zu Beitrag und da, wo es spannend ist, bleibt man hängen. Und spannend ist das "Handbuch des Kommunismus" fast überall.

Stéphane Courtois (Hg.): Das Handbuch des Kommunismus. Geschichte, Ideen, Köpfe
Aus dem Französischen von Enrico Heinemann, Ursula Held, Stephanie Singh
Piper Verlag, München 2010
848 Seiten, 49,95 Euro
Cover "Das Handbuch des Kommunismus" von Stéphane Courtois
Cover "Das Handbuch des Kommunismus" von Stéphane Courtois© Piper Verlag
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