Weltmeisterschaft

Torjagd mit Filmmusik

Ein Organist bedient in München in der katholischen Kirche St. Sylvester beim Spielen die Tasten der Orgel.
Orgel spielen ist Stephan Graf von Bothmers Leidenschaft. Als Begleiter von Stummfilmen oder Fußballspielen begeistert er seine Fans. © dpa picture alliance/ Tobias Hase
Von Julia Eikmann · 12.06.2014
Mit Fußball hatte Stephan von Bothmer eigentlich nichts am Hut. Bis er gebeten wurde, ein Deutschlandspiel auf der Orgel zu begleiten. Seitdem hat er eine treue Fangemeinde - völlig unabhängig davon, wie das Spiel ausgeht.
Fußball-Europameisterschaft 2012. Deutschland spielt gegen Italien. Im dunklen Jackett sitzt Stephan von Bothmer an der Orgel der Emmaus-Kirche in Berlin-Kreuzberg. Die braunen Locken fallen ihm in die Stirn, wenn er mit allen zehn Fingern auf die Tasten einhiebt. Das große Holzkreuz an der Stirnseite des Kirchenschiffs wurde abgenommen, stattdessen eine Kino-Leinwand aufgehängt. 600 Fans feiern eine Fußballparty.
"Und dann wiederum ist dieses brachial laute Instrument Orgel fast zu leise. Ich dreh' alle Register auf und komm kaum gegen den Lärm an, der hier herrscht!"
"Als Kind war ich nicht so besonders sportlich. Wenn wir auf Kindergeburtstagen Fußball gespielt haben, war ich immer der Reporter."
Die gleiche Kirche zwei Jahre später. Mit überkreuzten Beinen, auf Socken, die Schuhe sorgfältig neben die Orgel gestellt, sitzt Stephan von Bothmer auf der schmucklosen Orgelbank. Mit Fußball hatte der Pianist und Komponist eigentlich nie besonders viel zu tun:
"Man muss den anderen Leuten den Ball weg nehmen, das war irgendwie nicht so richtig meines. Ich bin mehr so ein Kompromissmensch."
Wenn der Ball zum Tor rollt, wird die Musik dramatischer
Und so sollte das erste Fußballspiel, das der 42-Jährige live an der Orgel begleiten wollte, damals, vor sechs Jahren, auch eine Art Kompromiss werden: Musikalische Untermalung ja, aber zusätzlich zum Original-Kommentar. So war der Plan. Durch ein Missverständnis fehlt der Ton dann ganz. Was bei dem Organisten erst zu Entsetzen führt - und sich dann als Glücksfall erweist:
"Ich kam mit Hirn voller Ideen an die Orgel. Und wir hatten irgendwie keine Möglichkeit, das vorher auszuprobieren. Und ich dachte: Kommt ja vielleicht keiner. Aber dann war das aber rappelvoll. Und ich hab in den ersten paar Sekunden gemerkt: Alles, was ich mir ausgedacht hatte, klappte irgendwie nicht. Und dann hab ich mir halt was Neues ausgedacht."
"Der alles entscheidende Trick ist: Es muss Filmmusik sein. Wenn ich mir vorstellen würde: Das, was jetzt passiert, ist ein dramatischer Hollywood-Film - wie würde der klingen? Wenn's zum Tor geht, wird das zum Beispiel spannender und dramatischer und dann geht es am Tor vorbei und dann tüdelüdelüüüüü."
Mit der Musik hat Stephan von Bothmer früh angefangen. Aufgewachsen auf dem gräflichen Familienanwesen im niedersächsischen Lauenbrück, fasziniert ihn schon als Kind das alte Klavier seiner Großmutter:
"Es gab so eine Ruine von einem Klavier bei uns in der Garage. Man muss sich vorstellen, so ein altes Gutshaus, die Garage ist die alte Gutsküche gewesen, überall stehen so verfallene Sachen rum und eben auch ein Klavier. Und da bin ich eben immer hingetappelt, da brannte auch kaum Licht, und hab da so Geistermusik drauf gemacht. Und das hat mich unglaublich bewegt."
Da war er fünf.
Diese Geistermusik mache ich immer noch, wenn ich Nosferatu begleite.
Aber auch die Kalimba, ein afrikanisches Zupfinstrument, begeistert den kleinen Grafen:
"Da hab ich immer dran rum gezupft und das fand ich einfach so toll! Und da wollte ich als Kind schon immer Klangforscher werden. Oder noch besser: Ich wollte Klang werden! Ich hab immer gedacht: Wenn man mal wiedergeboren wird und das entscheiden dürfte, dann würde ich gerne als Klang wiedergeboren werden."
Weil ihm Wiedergeburt aber noch zu weit weg erschien, entschied er sich, erstmal Musiker zu werden. Mit einem kleinen Umweg - einige Semester Mathematik und Physik in Freiburg, Hauptsache weit weg von Zuhaus - beginnt er sein Musik-Studium in Berlin.
Mathe und Musik? Für den Brillenträger kein Widerspruch:
Naja, es geht um die Faszination der Welt, oder!?
Ballwechsel sind genau zweitaktig
Und tatsächlich findet Stephan von Bothmer auch zwischen der Musik und dem Fußball faszinierende Beziehungen:
"Wenn eine Mannschaft den Ball erobert hat, dann gibt es ja oft ein Passspiel. Eigentlich recht lyrisch, überhaupt nicht dramatisch. Und da habe ich gedacht, machst Du es doch einfach mal so, immer wenn ein Spieler den Ball annimmt, verändere ich irgendwas, also rück die Harmonie ein bisschen oder verändere was im Rhythmus."
"Der Witz, den ich dann erkannt hab: Seltsamerweise sind die Ballwechsel genau zweitaktig. Nicht immer, aber wenn es klappt, also wenn es so ist, dass die in diesem Rhythmus spielen, dann fällt auch ein frühes Tor für diese Mannschaft."
Und in diesen Rhythmus kommen idealerweise nicht nur die Spieler. Auch zwischen dem Musiker, der sich mittlerweile komplett auf das Vertonen von Stummfilmen spezialisiert hat, und dem Publikum gibt es eine Wechselwirkung.
"Im Extremfall geht das so weit, letztes Mal ist einer aufgestanden, als die Deutschen einfach nicht in Fahrt kamen, und hat geschrien: Spiel schneller! Weil diese Verbindung von mir, von der Musik und dem Spiel war so dicht, dass er meinte, wenn ich jetzt schneller spielen würde, dann würden die Deutschen auch besser spielen."
Und Stephan von Bothmer hat schneller gespielt, seine besockten Füße über die Pedale der Orgel fliegen lassen - trotzdem hat Deutschland damals verloren:
"Und zwar ziemlich jämmerlich. Aber das Konzert hat dann mehr Spaß gemacht!"