Weltmeister im Morden, nicht im Erinnern

13.11.2013
Nach Meinung von Aleida Assmann ist deutsche Erinnerungskultur aus einer Position der Empathie und des kritischen Widerstandes entstanden. Sie verwahrt sich überzeugend gegen Kritik an der "affirmativen Staatskultur" des Erinnerns und den Vorwurf der Wirkungslosigkeit.
Übertreiben wir es mit dem Erinnern? Mahnmale, Gedenkstätten, Gedenkveranstaltungen, Gedenkjahre ("Zerstörte Vielfalt"), Stolpersteine, Museen, der Büchermarkt vor Großgedenktagen, aufwendige Dokudramen – es scheint, dass die ständige Beschäftigung mit dem Holocaust ein Wesenszug des wiedervereinigten Deutschland ist. Andererseits, am 9. November, dem 75. Jahrestag der antisemitischen Pogrome im NS-Deutschland, strahlt eine ARD-Anstalt einen Film über Erwin Rommel aus, Hitlers langjährigen Weggefährten. An so einem Tag!

Gibt es ein Zuviel und zugleich eine Orientierungslosigkeit deutscher "Erinnerungskultur"? Wendet sich die Aufmerksamkeit vom Leid der Opfer den Geschichten der Täter zu? Damit setzt sich die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in ihrem neuen Buch auseinander, in dem sie ein Unbehagen an der "Erinnerungskultur" in unserem Land feststellt.

Es rühre aus dem Umstand, dass die Ära der direkten Zeitzeugen, der "Erfahrungsgeneration", zu Ende gehe und eine neue, junge Generation die Deutungsmacht über geschichtliche Ereignisse erhalte. Sie stelle Sinn und Nutzen der gängigen Praxis infrage und öffne sich verstärkt der Fiktionalisierung von Geschichte in Form einer packenden Story.

Verankerung eines negativen Gründungsmythos
Bevor Assmann auf dieses "Unbehagen an der Erinnerungskultur" eingeht, resümiert sie die Entstehung des Begriffs selbst. Sie schildert differenziert, wie erst 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland eine allgemeine Bereitschaft entstand, den Holocaust zu thematisieren, dass es weiterer 20 Jahre bedurfte, bevor ihm "in intellektuellen Debatten und Akten des Gedenkens ein neuer Platz zugewiesen wurde". Erst seit Beginn dieses Jahrtausends – Assmann nennt hier die Errichtung des Holocaust-Mahnmals 2005 symbolisch als Datum – ist er selbstverständlich Teil des öffentlichen Diskurses, der Museen und ritualisierter Gedenkveranstaltungen.

Assmann verwahrt sich gegen Kritik an der "affirmativen Staatskultur" des Erinnerns und den Vorwurf der Wirkungslosigkeit. Sie pariert den vielmals spöttisch geäußerten Vorwurf, die Deutschen seien mit der Fülle von immer wiederkehrenden Veranstaltungen, Programmen, politischen und zivilgesellschaftlichen Initiativen "Weltmeister im Erinnern": Sie seien zuvor eben Weltmeister im Morden gewesen, man könne das nicht voneinander trennen. Das heutige Wertesystem habe überhaupt nur erfolgreich aus der Beschäftigung mit dem Holocaust entstehen können. Die Verankerung eines negativen Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschlands liest sie als einzigartige Erfolgsgeschichte.

Für die Wissenschaftlerin ist deutsche Erinnerungskultur letztlich aus einer Position der Empathie und des kritischen Widerstandes entstanden - auch wenn sie inzwischen parteiübergreifend politisch akzeptiert und staatstragend sei. Es gehe eben nicht mehr um eine Funktionalisierung des Begriffs zur Abrechnung mit der Elterngeneration, wie sie es noch bei den 68ern ausmacht, sondern schlicht um Moral, die sich an den Menschenrechten ausrichte, die universal sei.

Das Buch ist ein überzeugender, maßvoll und klug argumentierender Beitrag zur kritischen (Selbst-) Reflexion über die Frage, wie hierzulande mit Erinnerung umgegangen wurde und wird, welchen Stellenwert ihr unsere Gesellschaft zusprechen will, und wie Erinnerung zukünftig zu gestalten sei.

Besprochen von Carsten Hueck

Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention
C.H. Beck Verlag, München 2013
230 Seiten, 16,95 Euro
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