Weltmachtresümee auf dem Sterbebett

07.02.2007
Geboren in einer Jurte im Altai-Gebirge in der Westmongolei, einer kargen, kalten Bergsteppenregion mit Dauerfrostböden, auf denen wenig wächst, als Kind der kleinen Volksgruppe der Tuwa unterwiesen in der Schamanen-Kunst, quasi aufgewachsen auf dem Pferderücken, war ihm eigentlich eine Zukunft als Schaf- und Ziegenzüchter bestimmt. Doch Irgit Schynykbaj-oglu Dshurukuwaa - erst auf der Schule wurde er zu Galsan Tschinag, wie er in seinem Geschichtenband "Auf der großen blauen Straße" erzählt - zeigte sich beim Lernen als so wiss- und lernbegierig, dass man dem begabten Schüler ein Studienstipendium in Moskau anbot.
Das schlug er aus, um stattdessen 1962 in Leipzig ein Germanistikstudium anzufangen. Nach sechs Jahren in der Fremde, im DDR-Sozialismus, den er, wie seine ironisch-amüsanten Erzählungen zeigen, gut beobachtete, beherrschte er die deutsche Sprache so exzellent, dass er anfing, in ihr zu schreiben. Seitdem sind weit über ein Dutzend Romane und Erzählbände erschienen, die ihn allesamt als wortgewandten, sprachschöpferischen, phantasievollen Schriftsteller ausweisen.

Und wenn nötig, erfindet er einfach deutsche Wörter, angelehnt an tatsächliche Begriffe. Da sind Zweifel zum Beispiel stillfurzig und hasenherzig oder es gibt doppelläufiges Geschimpfe von zwei Frauen. Und seine Metaphern, von der mongolischen Kultur ebenso geprägt wie von der Kultur der Tuwa, geben den Texten zusätzliche Frische, machen selbst kurze Vignetten von eineinhalb Seiten, wie sie sich in dem Erzählband "Auf der großen blauen Straße" finden, zu einem Lesevergnügen. Allein diese Sprachkunst lässt seine Arbeiten zum Lesegenuss werden.

Doch Galsan Tschinag versteht es auch, die große Form, den Roman, die Fiktion zu bändigen und zuzureiten. Dass er sich jetzt dem wohl größten Mongolen aller Zeiten zuwandte, dem im 12. Jahrhundert geborenen Temudschin, der mit 28 Jahren zum Dschingis Khan, dem höchsten mongolischen Fürsten ernannt wurde, ist vor diesem biographischen Hintergrund durchaus verständlich. Auch wenn Tschinag ein Tuwa, also kein Mongole ist, so sind ihm Riten und Kultur, Denkweise und Verhalten doch wohl vertraut.

Er versetzt sich jedenfalls so überzeugend und souverän in den Herrscher hinein, dass man seinem Werdegang mit staunender Atemlosigkeit folgt. Tschinags Roman ist keine Biographie, selten dass einmal konkrete Anhaltspunkte aufscheinen, was wann geschah, vielmehr eine Charakterstudie der Macht und wie sie den Menschen verformt. Dschingis Khans Faszination auch für uns liegt sicherlich darin begründet, dass wohl niemand vor ihm und nach ihm so ein Weltreich gegründet und beherrscht hat. Der Mongole eroberte mit seinen Reitertruppen nicht nur China und den gesamten asiatischen Landraum, sondern auch Russland und halb Europa.

Jetzt liegt er nach einem Sturz vom Pferd bei einer Jagd, sich selbst für sein unentschuldbares Missgeschick verfluchend, sterbend auf weiches Fell gebettet in seiner Jurte. Neun Tage wird er noch leben, vor sich hindämmern, in Träume versunken. Neun Träume, eine heilige Zahl, führen ihn noch einmal zurück an die Orte seiner Triumphe und Niederlagen, seiner Schmach und Schande, seiner Liebe und seiner Verluste. Keine seiner Grausamkeiten wird verschwiegen.

Brüder, Freunde, Weggefährten fallen seinem Misstrauen ebenso zum Opfer wie widerspenstige Gegner. Er ist grausam, heimtückisch, rachsüchtig und verschlagen, traut nur sehr wenigen, fürchtet ständig Verrat. Niemandem wagt er sich anzuvertrauen, schottet sein Herz gegen Mitgefühl und Milde ab, gesteht sich keinerlei Schwäche zu. Selbst in den schlimmsten, den traurigsten Momenten bleiben seine Augen trocken.

Keine Chronologie hält die Traumerinnerungen zusammen. Kindheit und Mannwerdung, erste Schlachten und bittere Verluste, alles zieht bunt durcheinander vor seinem inneren Auge noch einmal auf. Geschickt führt Galsan Tschinag den sterbenden Fürsten zur Selbsterkenntnis, lässt ihn begreifen, dass er, flammend vor Hass, sein Reich auf Krieg und Blut gegründet hat, ein ungerechter, egoistischer Mörder ist, der Furcht und Angst selbst unter seinen Getreuen verbreitete. Schließlich erkennt er, dass er "ein sehender Blinder und hörender Tauber ist". Er fällt einen folgenreichen Beschluss.

Galsan Tschinags Kunst nun eröffnet einen Blick in eine uns zwar völlig ferne Kultur mit ungewohnten, bisweilen bizarren Regeln und Riten, aber sie zeigt Dschingis Khan auch als Menschen, den Gewissensbisse quälen, der Gefühle spürt, die wir kennen, nachempfinden können. Wir entdecken im Fremden das Vertraute.
Rezensiert von Johannes Kaiser

Galsan Tschinag: "Die neun Träume des Dschingis Khan"
Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 2007
252 Seiten, 18,30 Euro

und:

Galsan Tschinag: Auf der großen blauen Straße
UnionVerlag Zürich 2007
157 Seiten, 14,90 Euro