Weltgipfel für humanitäre Hilfe

Geldkarten gegen den Hunger

Menschen warten in der belagerten syrischen Stadt Madaja auf die Hilfskonvois mit Nahrungsmitteln und Medikamenten.
Menschen auf der Flucht oder - wie auf dem Foto im syrischen Madaja - in belagerte Städten sind auf Humanitäre Hilfe angewiesen. © AFP - Marwan Ibrahim
Cornelia Füllkrug-Weitzel im Gespräch mit Dieter Kassel · 17.05.2016
Auf dem ersten Weltgipfel für humanitäre Hilfe geht es um Geld – um das sogenannte "Cash Transfer Programming", das Bedürftige über eine Geldkarte versorgt. Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von "Brot für die Welt", sagt, warum sie das System für sinnvoll hält
Ab dem 24. Mai findet der erste Weltgipfel zur humanitären Hilfe in Istanbul statt, hochkarätig besetzt. Es soll um eine transparentere und effizientere Finanzierung gehen, vor allem vor dem Hintergrund vieler Millionen Flüchtlinge, die derzeit nach Europa und in die Türkei kommen. Das bedeutet, die lokalen Akteure zu stärken und mehr Nachhaltigkeit und Wirkung in der humanitären Hilfe zu erreichen. Hilfsorganisationen und die UN wollen den Bargeldtransfer (Cash Transfer Programming, CTP) zum bevorzugten Instrument der humanitären Hilfe machen. Was heißt das?
Die Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von "Brot für die Welt", sagt:
"Es läuft so ab, dass die Menschen statt Hilfspakete, die von uns gepackt werden, wo wir denken, was könnte denn deren Bedarf sein, wir hier im Sinne der westlichen Geber, entweder Geldkarten bekommen, die dann monatlich aufgeladen werden, oder aber Gutscheine bekommen, die sie in Läden einlösen können. Das heißt, sie können sich dann selber das beschaffen, was gerade ihr Bedarf ist."

Missbrauch der Geldkarten kaum möglich

Sie halte dies für sinnvoll, weil es nicht die Durchschnittsfamilie gebe und demzufolge jede Familie andere Bedürfnisse habe. Beispiel Türkei: Dort lebten etwa 85 Prozent der Flüchtlingsfamilien aus Syrien außerhalb von Lagern. "Man kann die nicht mit irgendwelchen Paketen versorgen, wie soll das gehen?"
Die Gefahr von Missbrauch der Geldkarten sieht Füllkrug-Weitzel nicht:
"Was wäre denn der Missbrauch bei einer Familie, die buchstäblich nichts mehr hat? Die einfach sich ernähren muss, die irgendwie was einkaufen muss? Was wäre denn hier wohl Missbrauch? Wir reden hier von Peanutssummen, wir reden ja von Summen, die weit unter dem liegen, was Hartz IV wäre oder sonst was."

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Nächsten Montag beginnt in Istanbul der erste Weltgipfel der Humanitären Hilfe. Es geht dort nicht nur, aber durchaus auch um den Ausbau des Bargeldtransfers in der Flüchtlingshilfe. Der Fachbegriff generell für diese Art von Hilfe ist Cash Transfer Programming, kurz CTP. Und was das genau ist, wo Vor- und Nachteile liegen und wie wahrscheinlich es ist, dass auch dieser Gipfel in Istanbul dazu sinnvolle Weichen stellt, das wollen wir jetzt von Cornelia Füllkrug-Weitzel wissen. Sie ist Präsidentin von "Brot für die Welt" und Vorstandsvorsitzende des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung. Einen schönen guten Morgen!
Cornelia Füllkrug-Weitzel: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Was bedeutet denn dieses CTP – erst mal ein abschreckender Fachbegriff – konkret? Wie läuft es, an einem Beispiel genannt? Es ist noch in relativ geringem Ausmaß angewendet zurzeit, aber es existiert ja schon. Wie läuft so was ab?
Die Präsidentin von Brot für die Welt, Cornelia Füllkrug-Weitzel, spricht am 17.02.2016 in der Bundespressekonferenz in Berlin über Fluchtursachen.
Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von "Brot für die Welt"© picture alliance/dpa/Kay Nietfeld
Füllkrug-Weitzel: Ja, die Diakonie-Katastrophenhilfe, der ich auch vorstehe, hat bereits immer wieder 14 Prozent ihrer Programme so laufen. Es läuft so ab, dass die Menschen statt Hilfspakete, die von uns gepackt werden, wo wir denken, was könnte denn deren Bedarf sein, wir hier im Sinne der westlichen Geber, entweder Geldkarten bekommen, die dann monatlich aufgeladen werden, oder aber Gutscheine bekommen, die sie in Läden einlösen können. Das heißt, sie können sich dann selber das beschaffen, was gerade ihr Bedarf ist. Es gibt ja bekanntlich nicht die Durchschnittsfamilie, die die Durchschnittsbedürfnisse hat, sondern jede Familie ist anders, hat mehr Säuglinge oder mehr Alter, hat mehr dies, hat mehr das, kann sich dann wirklich genau bedarfsgerecht das kaufen, was sie brauchen.

Die Bedürftigen treffen eigene Entscheidungen

Kassel: Das heißt jetzt aber nicht, so wie sich der Laie das vielleicht vorstellt, dass dann in einem Flüchtlingsheim oder woanders jemand an einen Schalter geht, seinen Namen nennt und Bargeld in die Hand bekommt?
Füllkrug-Weitzel: Das ist eine Möglichkeit. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie gesagt, mit Geldkarten kann man an einen Schalter gehen und Bargeld bekommen, man kann aber auch wie gesagt Gutscheine einsetzen bei Länden. So oder so, die Menschen treffen eigene Entscheidungen darüber, was ihr größter Bedarf ist.
Kassel: Das heißt aber auch, viele Hilfsorganisationen, nicht zuletzt auch die, für die Sie verantwortlich sind, halten das für – sicherlich nicht in allen, aber in vielen Fällen – den deutlich besseren Weg?
Füllkrug-Weitzel: Ich halte es deswegen für den besseren Weg, weil es uns zum einen hilft, den Menschen da zu helfen, wo sie gerade sind. Nehmen Sie mal die Türkei, 85 Prozent der drei Millionen Syrer, die in der Türkei sich als Flüchtlinge aufhalten, leben außerhalb von Lagern. Man kann die nicht mit irgendwelchen Paketen versorgen, wie soll das gehen? Aber wenn sie sich bei der türkischen Regierung oder beim UNHCR registrieren, dann können sie solche Geldkarten bekommen, oder wenn sei bei unseren Partnerorganisationen sich registrieren, und können dann tatsächlich in den Dörfern, wo sie leben, das Geld sich abheben oder aber an der Kasse zahlen. Man erreicht dadurch viel mehr Menschen.
Zum anderen, Sie erinnern sich an den letzten Sommer, wo die Menschen permanent ihren Ort gewechselt haben, auf der Fluchtroute durch den Balkan. Wenn sei so eine Geldkarte haben, dann können sie die in allen Ländern einsetzen. Sonst, sage ich mal, hechelt man immer hinterher und weiß heute nicht, wo man morgen Hilfe leisten muss. Das Dritte ist, bei der Menge an humanitärem Hilfsbedarf, den es zurzeit gibt, der noch nie so hoch war, kann man auch gar nicht so viele, ich sage mal … kann man nicht so viel Lagerhaltung haben, dass man … und so viel Transportkapazitäten, dafür Geld verschwenden, um dafür Güter zu transportieren, wenn die Leute sie sicher vor Ort kaufen. Die Diakonie-Katastrophenhilfe verfolgt schon lange das Prinzip, dass wir lokale Märkte außerdem stärken wollen.

Die Leute stärken die lokalen Märkte

Das heißt, die Leute kriegen Geld, können da einkaufen, wo sie sind, stärken damit dieses Umfeld. Die Alternative ist, sie kriegen aus den USA was weiß ich was, von amerikanischen Hilfsorganisationen Mais eingeflogen ohne Ende, zerstören ihre eigene Getreideproduktion. Also, es ist auch sehr viel nachhaltiger, es hilft, die lokalen Märkte zu stärken. Und letztlich das Wichtigste ist: Es stärkt einfach die Würde der Menschen, es macht sie nicht zu entmündigten Hilfsempfängern, sondern sie können so schnell wie möglich wieder Verantwortung für sich selbst übernehmen, selbst entscheiden, selbst aktiv werden, selber einkaufen und kochen, statt Essen zu kriegen, was vielleicht auch kulturell völlig unangemessen ist.
Kassel: Nun wird ja selbst in Deutschland schon über diese Frage, Sachleistungen oder Geldleistungen, eifrig diskutiert. Es gibt da zum Teil auch Unterschiede zwischen den Bundesländern, was Flüchtlinge angeht, die in Deutschland sind. Und viele Kritiker sagen dann ja, ja, denen einfach Geld in die Hand drücken, das öffnet ja Tür und Tor für Missbrauch. Gerade mit so einer Geldkarte, Sie haben ja beschrieben, sie sind vielleicht auf der Balkanroute unterwegs und können damit überall Geld abheben. Wie wollen Sie den Missbrauch verhindern?
Füllkrug-Weitzel: Was wäre denn der Missbrauch bei einer Familie, die buchstäblich nichts mehr hat? Die einfach sich ernähren muss, die irgendwie was einkaufen muss? Was wäre denn hier wohl Missbrauch? Wir reden hier von Peanutssummen, wir reden ja von Summen, die weit unter dem liegen, was Hartz IV wäre oder sonst was. Das sind Summen, die sind relativ geringfügig, eigentlich, was die UN-Organisationen ausgeben, eigentlich schon zu wenig zu Leben. Was soll da für Missbrauch betrieben werden? Und wenn Sie, sagen wir mal, Hilfspakete mit Sachgütern verteilen und dann sich zwei Wochen später auf den lokalen Märkten umschauen, dann werden Sie sehen, dass die Kleider oder das und das vielleicht da auch auf den Märkten gehandelt werden. Warum? Weil diese Familie halt vielleicht nicht gerade die Kinder hatte mit der passenden Kleidergröße. Also, wäre das Missbrauch? Auch das betrachte ich nicht als Missbrauch, dass die Leute das versuchen zu kriegen, was sie echt brauchen!

Hoffnung auf eine Selbsverpflichtung der Geber

Kassel: Lassen Sie uns doch jetzt am Schluss unseres Gesprächs mal auf diesen Gipfel in Istanbul blicken. Welche Hoffnung verbinden Sie denn damit, zum Beispiel was dieses Cash Transfer Programming, also diese Verteilung von Gelder auf welchem Wege auch immer angeht? Glauben Sie, dass da Weichen gestellt werden?
Füllkrug-Weitzel: Der Gipfel soll ja insgesamt für die weltweite humanitäre Hilfe helfen, eine klarere Orientierung zu geben und vielleicht so ein paar strategische Marschrichtungen zu skizzieren. Wir würden uns schon wünschen, wenn dort stärker angepeilt wird, dass bis 2030 vielleicht die Hälfte aller Hilfsleistungen durch Geldleistungen ersetzt würde. Denn man soll sich ja dadurch verschiedenen internationalen Hilfsorganisationen, die Staaten, die Gebernationen, UN-Organisationen sollen sich da ja verpflichten darauf, was nehmen sie sich für Ziele vor. Das könnte ein Ziel sein. Ein anderes, für uns nicht minder wichtiges Ziel wäre, dass dort die Geber sich selbst darauf verpflichten, die lokalen Akteure zu stärken. Wir alle wissen, egal was in der Situation des Spendensammelns behauptet wird, dass die erste Reaktion, die ersten Hilfsmöglichkeiten zum Beispiel nach Erdbeben oder großen Naturkatastrophen immer von den lokalen Hilfsorganisationen kommt, die es in jedem Land gibt, die vielleicht schwach sind, die aber gestärkt werden müssen, ganz deutlich gestärkt. Sie müssen die Subjekte werden, nicht die Objekte der internationalen Hilfe.
Kassel: Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von "Brot für die Welt" und unter anderem auch Vorstandsvorsitzende des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung. Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch und lassen Sie uns auch beide – vielleicht sogar gegen besseres Wissen – sehr viel hoffen, was diesen Gipfel angeht!
Füllkrug-Weitzel: Ja, vielen Dank!
Kassel: Danke Ihnen.
Füllkrug-Weitzel: Wiederhören.
Kassel: Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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