Weltflucht gegen Realitätsprinzip

Moderation: Ulrike Timm · 14.10.2013
Spiritualität sei eine Kommunikationsform, bei der es auf wenig Bestimmtheit ankomme. Auch in der Politik gebe es Situationen, in denen man nur mit spirituellen Begriffen weiterkomme, meint der Soziologe Armin Nassehi. Als Beispiel nennt er das Flüchtlingsdrama von Lampedusa.
Ulrike Timm: Spiritualität und Politik, ob die was miteinander zu tun haben? Auf der Hand liegt das erst mal nicht, Spiritualität zieht sehr oft eine gewisse Weltflucht nach sich, Politik ist zumindest im Tagesgeschäft die Welt des realistisch Machbaren. Andererseits: Sind es nicht doch oft spirituelle Erwägungen, die ein politisches Weltbild mit formen, wenn man zum Beispiel einen Satz denkt wie "wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen"? –

Überall, wo es um moralische Fragen, um Sinnfragen im Politischen geht, spielen spirituelle Überlegungen eben doch eine Rolle, meint der Soziologe Armin Nassehi. Er lehrt an der Universität München und wir wollen hören, welche Gedanken er sich dazu macht.

Schönen guten Tag, Herr Nassehi!

Armin Nassehi: Schönen guten Tag, Frau Timm!

Timm: Spiritualität hat für Sie wenig mit Weihrauch und Weltflucht zu tun, sondern mit Kommunikation, mit Gespräch. Um das anschaulich zu machen: Wo haben Sie denn zuletzt beobachtet, dass eine politische Diskussion eine starke spirituelle Seite hatte?

Nassehi: Ja, in der Tat interessiert mich an Spiritualität, dass Spiritualität eine bestimmte Kommunikationsform ist, und zwar eine Form, bei der es auf wenig Bestimmtheit ankommt. Also, überall dort, wo wir eigentlich nicht so genau mit eindeutigen Begriffen arbeiten können, geraten wir schnell in spirituelle Diskussionen.

In der Politik, kann man ja sagen, geht es oftmals um starke Eindeutigkeiten, aber manchmal gibt es Situationen, in denen man tatsächlich nur mit Begriffen, die irgendwie spirituell wirken, weiterkommt. Zum Beispiel, wenn man an Katastrophen denkt, das, was in Lampedusa in den letzten Tagen und Wochen stattgefunden hat, bei dem wir ja alle fassungslos sind über das, was da passiert, und relativ eindeutige Sätze darüber sagen können, dass es eine verfehlte Migrationspolitik, ein verfehltes Grenzregime, womöglich sogar die Schuld von Aufsichtsorganen sind, würden wir sagen, zunächst einmal sind wir fasziniert davon, dass es sich um Menschen handelt, um nichts weiter.

Das ist ja gar keine Information, dass es sich um Menschen handelt, was denn sonst. Aber dass wir das so pathetisch betonen, es sind Menschen, die da zu uns kommen, und Menschen, die zu Tode kommen, das hat etwas Spirituelles, weil man gleichzeitig etwas Bestimmtes und Unbestimmtes sagt. Der Satz hat eigentlich keine Information, sagt aber alles, was man sagen will.

Timm: Bringt da die spirituelle Komponente das Nachdenken möglicherweise sogar weiter als die rein pragmatisch politische? Über all dem Unglück stand ja immer wieder der Satz, das darf nicht sein, egal, wie man es organisiert oder nicht organisiert, das darf noch nicht sein!

Nassehi: Ja, das darf in der Tat ja auch nicht sein. Die Frage ist, wie geht man damit um? Also, natürlich geht es um rechtliche Regelungen, es geht um politische Entscheidungen, es geht wahrscheinlich auch um Caritatives, aber zunächst einmal sind wir ja fasziniert von der Situation, negativ fasziniert. Und da fällt uns ein Begriff ein, der eben mit Unbestimmtheit argumentiert: Es handelt sich um Menschen! Ich würde Spiritualität so definieren, dass es eine Form der religiösen Äußerung ist, die noch weniger Bestimmtheit aushält als kirchlich-konfessionelle Kommunikation. Also, in Kirchen und Konfessionen kann man ja relativ eindeutig sagen, was die richtigen Begriffe sind, was die richtigen Formen sind, und spirituelle Kommunikation versucht sich, dem sogar noch zu entziehen, indem sie das meiste, was sie sagt, im Dunkeln lässt.

Wenn wir in solch einer Situation sagen, es handelt sich um Menschen, dann versuchen wir, etwas zum Klingen zu bringen, was gar nicht auf Information oder Bestimmtheit zielt, sondern eben darauf, dass wir betroffen sind von einer Situation, die wir gar nicht weiter beschreiben müssen und können.

Timm: Nun haben Sie eben betont, dass Spiritualität und Religion nicht dasselbe sind. Zumindest bei uns laufen ja auch den Kirchen die Menschen davon, während eine diffuse Spiritualität im Aufwind ist. Zieht sich aber diese Spiritualität nicht auch ins Diffuse, ins Unbestimmte immer zurück und schadet dadurch? Denn Religion ist doch zumindest in sich politisch und organisiert sich dementsprechend!

Nassehi: Na ja, das Religiöse, würde ich ja zunächst soziologisch sagen, ist, das Beobachtbare und das nicht Beobachtbare der Welt zusammen zu denken. Wir versuchen, das Ganze zu sehen, und sehen, dass wir eigentlich nichts sehen können, und müssen dafür irgendwelche Begriffe finden. Dafür haben sich Religionen entwickelt und wir sind in Europa, vor allem im deutschsprachigen Raum, daran gewöhnt, dass Religion vor allem in organisierter Form stattfindet, das heißt, in Form von Kirchen.

Das heißt, es kann dort relativ bestimmt entschieden werden, was der richtige Glaube ist, was der falsche ist, und das wird geregelt über Mitgliedschaftsbedingungen. Und bis vor Kurzem konnte diese Art von Mitgliedschaft auch die religiösen Motive der Menschen noch vergleichsweise genau ordnen und bestimmen. Dazu gehört übrigens auch dann religiöse Form und von Politik. Also, wenn Sie etwa daran denken, dass in der organisierten Religiosität in Deutschland in den Spitzenverbänden oder in den entsprechenden Gremien auch immer Vertreter der Kirchen mitgeredet haben und bis heute mitreden.

Wir erleben heute, dass sich die Menschen über Kirchenmitgliedschaft immer weniger dazu bringen lassen, das Richtige zu denken, das wird diffuser. Ich habe selbst eine Untersuchung im Rahmen des Bertelsmann-Religionsmonitors gemacht, wo wir Menschen haben religiös reden lassen, und durchaus auch Menschen, die sich für hoch religiös halten, produzieren ganz diffus ihre je eigene Idee davon, wie sie spirituell leben, welche Religionsinhalte sie plausibel finden.

Da wird vieles miteinander vermischt, es ist sehr inkonsistent, es ist sehr ungenau. Und damit entfleucht sozusagen das Religiöse bisweilen aus dieser organisierten Form von Religiosität. Was natürlich auch zur Folge hat, dass die Kirchen als politische Stimme womöglich ein geringeres Gewicht bekommen, als das mal der Fall war.

Timm: Dann spiele ich den Ball noch mal zurück nach Lampedusa, dem Beispiel, das Sie brachten, das Flüchtlingsschicksal, was alle so berührt hat. Wenn die Spiritualität, die da eine Rolle spielt, so diffus bleibt, ja, nützt den Flüchtlingen denn das wirklich was, wenn jetzt alle spirituell sich darüber aufregen?

Nassehi: Es ist auch ganz interessant, dass einer der vielleicht beeindruckendsten Akteure Papst Franziskus war, der ja jemand ist, der sozusagen innerhalb einer starken hierarchischen Organisation offenbar in der Lage ist, auch mit Unschärfe umzugehen, der dort hingeht und natürlich politisch zunächst einmal folgenlose Sätze sagt, aber eine Form von Aufmerksamkeit erzeugt, die ausschließlich von der Information lebt, dass es sich dort um Menschen handelt.

Das heißt ja im Prinzip, das könnte auch ich sein, das ist ein Schicksal, das eben nicht nur etwas zu tun hat mit einer Marke in einer Statistik oder mit einer kalten Information, sondern dass da Schicksale dranhängen, also viel mehr dranhängt, als man wirklich sieht. Und ich würde sagen, das ist schon eine Art von Spiritualität im Hinblick auf den Umgang mit Unbestimmtheit.

Aber natürlich wird Spiritualität keine politische Größe im engeren Sinne werden und man könnte auch sagen, vielleicht wollen wir Politik auch nicht zu stark auf so etwas wie Spirituelles oder Religiöses stützen. Weil Religion, wenn sie aus den Organisationen rausgeht, durchaus auch etwas Wildes haben kann, wie wir aus der Weltgesellschaft wissen.

Timm: Wir sprechen mit dem Soziologen Armin Nassehi über die Dimension des Spirituellen in der Politik. Bei welchen politischen Debatten sehen Sie denn noch eine starke spirituelle Komponente?

Nassehi: Wenn man sich etwa die ganzen Diskussionen über bioethische Fragen anguckt, über die Palliativmedizin, über die Frage des Verhältnisses von Laien und medizinischem Expertenpersonal, dann stellen wir ja immer mehr fest, dass man Situationen beschreiben muss, in denen durchaus religiöse und spirituelle Formen oder Denkfiguren eine Rolle spielen. Denken Sie etwa an die Frage der Unverfügbarkeit des Menschen, wenn es um die Frage geht, was wir wirklich wollen, wenn wir in einer Grenzsituation sind! Das sind ja Chiffren, die in der politischen Diskussion sehr stark auftauchen, wir wissen ethisch bisweilen nicht so bestimmt und genau, was das Richtige ist, und sehen Situationen, die so unbestimmt sind, dass man sich womöglich viel emotionaler mit dieser Geschichte beschäftigen muss oder sich die Frage stellen muss, ob man über eine formalisierte Ethik solche Probleme tatsächlich lösen kann.

Oder denken Sie an die Frage, wo es um so eine Art von Aushandeln zwischen Experten und Laien geht, also zwischen Ärzten und Patienten zum Beispiel. Man redet ethisch von Informed Consent und vergisst ganz, dass es dort Menschen gibt, die sozusagen nicht auf Augenhöhe mit dem Arzt reden können, weil sie es sind, die sterben werden, und nicht die Ärzte. Das produziert eine Situation, in der man womöglich eine sensiblere Form von Kommunikation braucht.

An der Universität München gibt es inzwischen eine Professur in der medizinischen Fakultät für Spiritual Care, also für eine spirituelle Form der Palliativmedizin, in der Medizin und Spirituelles gemeinsam auf Augenhöhe akademisch nachdenken, wie Betreuung aussehen soll. Also, das spielt in der Öffentlichkeit durchaus auch eine Rolle, in öffentlichen Debatten, an deren Ende politische Entscheidungen stehen.

Timm: Wie viel Effekt hat das dann am Ende bei den politischen Entscheidungen? Es kann ja auch sein, dass die Spiritualität den Denkanstoß gibt und dann doch wieder das grobe Geschäft, sprich, das Handeln der Realpolitik überlässt!

Nassehi: Natürlich. Ich meine, das würden wir von Politik auch erwarten, dass es durchaus gute Gründe für bestimmte Entscheidungen gibt. Aber die Entscheidungen lassen sich womöglich verunsichern, und das finden wir in der bioethischen Debatte schon, dass da auch öffentliche Debatten auf eine sehr sensible Art und Weise stattfinden können. Die Frage, wann ist ein Mensch eigentlich tot, die Frage, was bedeutet ein Wille, den man in einer bestimmten Situation einmal formuliert hat, die Frage, wie gehen wir eigentlich damit um, dass ein Mensch einen Willen hat, den wir aus rechtlichen oder moralischen Gründen zunächst mal für falsch halten?

Das sind ja alles Dinge, die man nicht einfach so mit einem einfachen Algorithmus beschreiben kann, und Politik stellt sich auf diese Fragen schon durchaus sensibel manchmal ein. Es ist auch interessant, wie Sie das in der öffentlichen Debatte etwa mit Jürgen Habermas sehen, der ja nun nicht im Verdacht steht, ein religiöser Denker zu sein, der so eine Figur wie die Unverfügbarkeit des Menschen für sich selbst, für die Bedingung der eigenen Vernunft hält. Das ist ein geradezu religiöser Gedanke, wie er auch selber einräumt, der gespeist ist durch religiöse Mystik, und durch die Idee, dass wir eben nicht - um es psychoanalytisch zu sagen - Herr im eigenen Haus sind. Und diese Formen spielen schon eine Rolle.

Timm: Auch bei Ihnen klingt immer wieder diese feine Unterscheidung durch: Spiritualität und Religion. Ich frage mich, warum kann eigentlich die Religion bei uns zumindest, warum kann die Kirche von solchen Debatten vertrauensmäßig nicht profitieren, die spirituelle Szene aber schon?

Nassehi: Das Interessante an Kirchen ist ja, dass es sich um Organisationen handelt. Und Organisationen müssen einfach sehr viel Eindeutigkeit produzieren. Also, sie produzieren Katechismen, sie produzieren Lehrsätze, sie produzieren Ideen, was die Bedingungen für Mitgliedschaft sind, sagen relativ eindeutig, was richtig und falsch ist. Sie sind geradezu besessen davon, gerade wenn es um Sexualmoral geht, zu sagen, wie man sich verhalten soll und wie nicht. Und weil diese Form von Mitgliedschaft eben das Verhalten der Menschen nicht mehr so eindeutig einschränken kann, wandert Religiöses gewissermaßen aus der organisierten Form aus, verschwindet aber nicht.

Also, aus der Perspektive der Kirche sieht es so aus, als seien wir ein säkularisiertes Land, in dem Religion nicht mehr stattfindet, das Gegenteil ist der Fall! Religion wird wieder wilder, sie wird sozusagen viel stärker einer Form ausgesetzt, die dann eben im Privaten stattfindet, indem man sich zusammenbaut, was man so zusammenbauen kann. Papst Franziskus ist womöglich jemand, der das begriffen hat und der als Spitze einer hierarchischen Organisation hier Unschärfe ins Spiel bringt, deshalb findet man ihn so faszinierend. Er ist am Ende natürlich immer noch ein Funktionär dieser Weltkirche!

Timm: Der Soziologe Armin Nassehi über die Dimension des Spirituellen in der Politik und darüber, wie sie sich gegen das rein Religiöse abgrenzt.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Nassehi!

Nassehi: Ich danke Ihnen!


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