Weltdistanz, Autorität und strikte Hierarchie

Reinhard Hempelmann im Gespräch mit Marietta Schwarz · 13.09.2013
Der Vorwurf der Kindesmisshandlung gegen die urchristliche Gemeinschaft "Zwölf Stämme" bewegt auch die Amtskirche. Die Gruppe lebe sehr abgeschieden und zurückgezogen von normalen gesellschaftlichen Zusammenhängen, sagt Reinhard Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.
Marietta Schwarz: Immer wieder gerät die Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" mit den Behörden aneinander. Bislang ging es vor allem um die Verweigerung der Schulpflicht der Sektenkinder, vor allem wegen des Sexualkunde-Unterrichts an staatlichen Schulen. Jetzt steht der Vorwurf der systematischen Kindesmisshandlung im Raum, nachdem ein Fernsehreporter mit Filmmaterial an die Öffentlichkeit gegangen ist, auf dem Stockschläge zu sehen sind ‒ offenbar eine übliche Züchtigungsmethode bei dieser Sekte. Heute beginnt die Anhörung der betroffenen Eltern vor dem Amtsgericht in Nördlingen, ein Ermittlungsverfahren ist eingeleitet.

Am Telefon ist Reinhard Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Herr Hempelmann, guten Morgen.

Reinhard Hempelmann: Guten Morgen.

Schwarz: Sie sind ja quasi so etwas wie der Sektenbeauftragte der EKD. Ich vermute, die "Zwölf Stämme" stehen seit langem auf Ihrer Liste. Wofür steht denn diese Sekte?

Hempelmann: Eine Vorbemerkung mache ich gerne noch. Der Sektenbegriff wird natürlich heute sehr vielfältig verwandt und steht natürlich jetzt, wenn wir ihn verwenden, für Gefahr und auch für Problematik und für Konfliktträchtigkeit. Wofür steht diese Gruppe "Zwölf Stämme"? Es ist eine kleine Gruppierung. Diese Gruppe steht für ein kommunitäres Zusammenleben. Man lebt also sehr abgeschieden von den normalen Gemeinschaftsbildungen, in die normalerweise jeder hineinverwoben ist. Man lebt sehr abgeschieden. Es gibt starke Hierarchien. Es gibt sozusagen die väterliche Autorität, die patriarchalische Autorität, die insbesondere hervorgehoben wird. Man versteht sich in Kontinuität zur Bibel, zu urchristlichen Glaubensanliegen. Man feiert den Sabbat.

Man hat eine gewisse Striktheit im Glaubensverständnis, und diese Striktheit bezieht sich auch auf die Anforderungen, die an die einzelnen im Alltag gestellt werden, also intensive Arbeit, Verzicht auf Eigentum, kein Lohn, wie wir das sonst kennen. Man kann vielleicht sagen, dass Weltdistanz für diese Gruppierung eine große Rolle spielt. Die Frage ist dann, wie weit ist ein Rückzug möglich aus den normalen gesellschaftlichen Zusammenhängen, ohne dass etwa das Kindeswohl gefährdet ist oder ohne dass Hilfeleistungen unterlassen werden.

Schwarz: Nun scheint es ja kein Geheimnis zu sein – später ist man immer schlauer -, dass man da auch gerne mal zur Rute greift. Auf der Internet-Seite geht die Sekte damit relativ offen um, in schriftlicher Form zumindest. Ist man da als Zentralstelle für Weltanschauungsfragen nicht auch in der Verantwortung, etwas zu unternehmen?

Hempelmann: Wir haben über diese Gruppe schon seit Jahren informiert. Wir sind natürlich keine öffentlichen Behörden, die jetzt eingreifen könnten. Es gab ja in der Anfangsgeschichte dieser Gemeinschaft auch den Fall oder den Vorwurf von Kindesmisshandlung. 112 Kinder wurden in den USA in Gewahrsam genommen, und es kam zu gerichtlichen Auseinandersetzungen und wegen unzureichender Beweise wurden die Kinder ihren Eltern zurückgegeben. Auch jetzt muss man natürlich erst mal abwarten, wie die Vorgänge zu prüfen sind. Aber selbstverständlich ist es die Aufgabe der Evangelischen Zentralstelle, auf problematische Gruppierungen und auch auf problematische Praktiken hinzuweisen. Wenn wir gesicherte Erkenntnisse darüber haben, tun wir das auch.

Schwarz: Welche anderen problematischen Gruppierungen gibt es denn neben den "Zwölf Stämmen" in Deutschland noch?

Hempelmann: Ich sage mal, Fundamentalisierungs- und Radikalisierungsprozesse, die kann es praktisch in allen Religionsgemeinschaften geben. Das ist dann natürlich in hohem Maße davon abhängig, in welcher Form etwa das gemeinschaftliche Leben erfolgt, wie weit das, was ich vorhin mit dem Stichwort Weltdistanz beschrieben habe, sozusagen verbreitet ist.

Schwarz: Aber sehen Sie auch so etwas wie ein Erstarken der Evangelikalen in Deutschland, wie man das zum Beispiel in den USA beobachten konnte?

Hempelmann: Es gibt fraglos eine zunehmende Resonanz des Evangelikalismus in Deutschland. Aber gerade zu diesem Thema hat sich die Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sehr vielfältig geäußert und insbesondere dafür plädiert, zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus zu unterscheiden. Ich meine, das scheint mir schon auch wichtig zu sein, darauf hinzuweisen, dass solche Gruppierungen wie jetzt etwa die "Zwölf Stämme" nicht die Normalität religiösen Lebens, auch nicht evangelikalen religiösen Lebens in Deutschland ist. Das muss sehr deutlich gesagt werden. Man kann ja dann nicht aufgrund, ich sage mal, solcher einzelner, wirklich problematischer Gruppen auf das Ganze schließen oder sagen, dass der gesamte Bereich des, ich sage mal, konservativ-evangelikal-charismatisch-pentekostalen Protestantismus sozusagen ein latentes Konflikt- und Gewaltpotenzial in sich hat.

Schwarz: Davon distanziert sich die Evangelische Kirche ja auch nicht, von den Evangelikalen?

Hempelmann: Nein, so ist es. Mit Recht! Mit Recht.

Schwarz: Reinhard Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Herr Hempelmann, danke für das Interview.

Hempelmann: Bitte schön.


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