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Carlos María Domínguez: Der verlorene Freund
Über Verlust und Verlorenheit

Es ist ein bitteres Resümee von einem unschöpferischen Leben, nicht einmal mehr eingebettet in die Traditionen familiärer Beziehungen, das Domínguez mit seinem "großen kleinen" Roman vom "kurzen Tod des Waldemar Hansen" zieht. Das "große", im alten Europa begründete Thema des Scheiterns, vermittelt in "kleinen", typisch südamerikanischen Geschichten und Episoden. Prädikat: unbedingt lesenswert.

Von Martin Grzimek | 14.07.2015
    Einen "großen kleinen Roman über Verlust und Verlorenheit" nennt der Klappentext ein wenig widersprüchlich den neuen Roman des argentinischen Schriftstellers Carlos María Domínguez, der im Deutschen den recht allgemein gefassten Titel trägt: "Der verlorene Freund". Im spanischen Original heißt das Buch sehr viel eindeutiger und personifizierend "La breve muerte de Waldemar Hansen", also "Der kurze Tod des Waldemar Hansen". Dieser Waldemar Hansen hatte - daher sein Name - deutsche Vorfahren. Sein Großvater war ein Ingenieur, der nicht nur am Panamakanal mit gebaut, sondern auch "die englische Eisenbahn bis in Uruguays Norden gebracht hatte", sein Vater „war bei der Handelsmarine gewesen und hatte als einer der ersten Offiziere seinen Fuß in die Antarktis gesetzt" und Waldemar, "ob notgedrungen oder aus Schwäche", wie es auf der ersten Seite heißt, war in Montevideo Anwalt und Notar geworden. Darüber hinaus war er ein Kunstliebhaber, denn für ihn war...
    "... die Kunst eine untrennbare Gefährtin des Geldes und dessen beste Rechtfertigung. (...) Er war bei Weitem kein Millionär, hatte nur ein gutes Auskommen, wohnte im fünften Stock über dem Bulevar España, besuchte Vernissagen, Konzerte, Theaterpremieren und scheute keine Ausgaben, wenn seine Reisen in die Opernsaison fielen."
    Wir begegnen also gleich zu Anfang einem feinsinnigen, allein lebenden Mann, ein Einzelgänger mit einer in Italien verheirateten, unehelichen Tochter, die, wie es scheint, in seinem Leben bislang seine einzige und engste Bezugsperson darstellte. Doch dann trifft er rein zufällig auf einen etwa gleichaltrigen Mann, den namenlosen Erzähler in diesem Roman, einen pensionierten Konsul und Bibliophilen, und die beiden freunden sich an.
    Namenloser Erzähler
    "Unsere Treffen fanden immer bei ihm statt, wir bestellten eine Pizza, tranken ein paar Gläser und hörten Jazz. (...) Berufstätig war er nicht mehr, das wusste ich, ebenso, dass er nicht mehr länger die Trennung von einer Freundin beklagte. Er erwähnte eine Schwester, mit der er sich nicht verstand, und Schwierigkeiten beim Einschlafen, sodass er mich zum Bleiben drängte und oft Mittel fand, mich aufzuhalten. Seine Großzügigkeit war so überwältigend wie die Qualität seines Whiskys und die Gewitztheit, mit dem er dem Gespräch immer wieder eine unverhoffte Wendung gab. (...) Wir sprachen selten über unser Leben, wussten praktisch nichts voneinander, aber oft reichte ein Blick und wir verstanden uns."
    Durch diese Darstellung der gemeinsamen Gespräche über Kunst und Literatur, durch die Beschreibung seiner Wohnung und seiner Lebensart gewinnt Waldemar Hansen immer mehr an Kontur und bleibt doch rätselhaft fremd, da alles Biographische nur an der Oberfläche berührt wird. Der Erzähler gibt sich zufrieden damit, da auch er nicht aus sich heraustreten und sich zu sich selbst äußern muss. Es gibt keine offenen Fragen, auch kein Jammern in dieser „zuverlässigen Freundschaft", wie er es nennt, bis er plötzlich eines Nachts von einem Anruf von der ihm unbekannten Tochter Waldemars überrascht wird und mit der Nachricht, ihr Vater wolle ihn sehen.
    Er habe sich einige Tage zuvor aus dem Fenster gestürzt. So lernt der Erzähler zwar die Angehörigen Waldemars kennen, doch mit ihm kann er nicht mehr sprechen. Waldemar erliegt seinen schweren Verletzungen. Für seinen Selbstmord scheint es keine einzige plausible Erklärung zu geben. Rätselhaft bleiben auch die letzten Worte, die der Sterbende gesagt haben soll, dass nämlich alles, was war, existiere, ein Satz, der im Erzähler einen fast detektivischen Ehrgeiz entfacht und nun die Suche auslöst nach der geheimnisvollen Seite im Leben des Waldemar Hansen.
    Soweit die Disposition des Romans, von Carlos María Domínguez auf nur dreißig Seiten mit einer von seinen früheren Büchern her gewohnten, stilistisch wunderbar ausgefeilten Eleganz entworfen, ein Lesevergnügen ersten Ranges.
    Fast zeitlos wirkt die Darstellung dieser späten Männerfreundschaft und könnte auch in jeder europäischen Großstadt stattgefunden haben. Doch was nun in den verbleibenden fünf Kapiteln folgt, versetzt uns in die bunte Welt Südamerikas, in ein Kaleidoskop von entlegenen Orten und eigenwilligen Charakteren, die nichts mehr mit Kunst und Literatur zu tun haben, sondern mit dem bloßen Überleben, dem Dahinvegetieren zwischen Langeweile, schwerer körperlicher Arbeit, dem vom Alkohol bestimmten Wochenendvergnügen, mit Dreck, Arbeit, roher Zügellosigkeit, der Gier nach ein bisschen Geld und der Respektlosigkeit gegenüber dem Leben des Anderen.
    Im Norden Uruguays
    Der Ort, an dem sich dieses erbärmliche Leben versammelt, liegt im Norden Uruguays und heißt Mina de Corrales, eine Siedlung von Goldgräbern, in der Waldemar Hansen einmal auf einer Fahrt in eine Stadt Halt machte und sich zu einer völlig unverständlichen Tat verleiten ließ: Auf dem Friedhof, den er besuchte, stahl er ein kleines, eisernes Kreuz, entweihte ein Grab, nahm einem Toten seinen Namen und hängte dieses an sich wertlose Kreuz neben seine kostbaren Kunstschätze in seine Wohnung. Und der Roman von Domínguez wäre nun nicht der eines Südamerikaners, wären mit diesem Kreuz nicht eine Unmenge von kleinen Geschichten, Episoden, Konflikten verknüpft - Erzählstränge, die der Autor nur mit Mühe in den Griff zu bekommen scheint, und Geschehnissen, die alle auf das Motiv für Waldemars Selbstmord hindeuten. Doch wie sich am Ende dieser langen Erzählung herausstellt, gibt es dafür nur einen einzigen Grund, und der ist auf der ersten Seite des Romans schon angeführt. Waldemar war ein Nachkomme von Entdeckern, Vorreitern, Menschen, die etwas bewirkt haben durch ihre Taten, während er selbst als Notar nur noch aufschrieb. Denn nach all seinen Recherchen ist der Erzähler überzeugt, nun erahnen zu können ...
    Bitteres Resümee
    "... warum Hansen so skrupellos das Kreuz mitgenommen hatte, müde, sich selbst treu zu bleiben, ewig vertrauenswürdig zu sein, für die anderen wie für sich selbst, und so hatte er sich das Gegenteil beweisen wollen, nicht etwa, weil seine Tugend geheuchelt gewesen wäre, sondern weil sie ihn ausgelaugt hatte. Einmal hatte er mir erzählt, wie sehr es ihn erschöpfte, all die Urkunden zu überprüfen (...) voller Maßangaben, Adressen, Namen, Ausweisnummern, Eheschließungen, Verwandtschaftsgrade mit dem einzigen Ziel (...), nicht übers Ohr gehauen zu werden."
    Aus dem einfachen Grund, einmal seiner leeren Lebensroutine, seiner unproduktiven Existenz zu entgehen und auf beinahe "kindliche Weise" eine Grenze zu überschreiten, hatte er dieses für ihn völlig wertlose Kreuz gestohlen und war in einen Strudel von Sinnlosigkeiten geraten, aus dem heraus ihn nur sein von ihm selbst herbeigeführter Tod befreien konnte. Es ist ein bitteres Resümee von einem unschöpferischen Leben, nicht einmal mehr eingebettet in die Traditionen familiärer Beziehungen, das Domínguez mit seinem "großen kleinen" Roman vom "kurzen Tod des Waldemar Hansen" zieht, das "große", im alten Europa begründete Thema des Scheiterns, vermittelt in "kleinen", typisch südamerikanischen Geschichten und Episoden und wegen deren ausufernder Überdimensionierung nahe daran, die Grenzen der Gattung des in sich geschlossenen Romans zu überschreiten, in diesem Fall allerdings mit dem Prädikat: unbedingt lesenswert.
    Carlos María Domínguez: Der verlorene Freund. Roman.
    Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 166 S., Euro 17,95