Weimarer Republik und Nazi-Herrschaft

Rezensiert von Annette Wilmes · 02.02.2006
Die "Chronik eines Untergangs" von Leopold Schwarzschild beschreibt das Ende der Weimarer Republik und die Nazi-Herrschaft bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges - aus der Sicht eines Ökonomen und Zeitzeugen. Die Texte berichten nur wenig über persönliche Schicksale und so gut wie nichts über den Alltag der Verfolgten.
Max Brod, Klaus und Thomas Mann, Robert Musil, Walter Benjamin, Alfred Polgar, Joseph Roth und Carl von Ossietzky schrieben für das "Tagebuch", das 1920 der Wiener Publizisten Stefan Grossmann unter der Mithilfe von Ernst Rowohlt gegründet hatte. Schon 1922 kam Leopold Schwarzschild dazu, wurde Mitherausgeber, und ab 1928 gab er die Zeitschrift allein heraus, weil Stefan Grossmann schwer erkrankte und deswegen zurücktrat. Dass so schnell so bekannte Autoren gewonnen werden konnten, lag sicher auch daran, dass Grossmann selbst einer der prominentesten linksliberalen Publizisten seiner Zeit war, bekannt vor allem durch seine sozialkritischen Reportagen, zum Beispiel über österreichische Strafanstalten, aber auch als Redakteur im Feuilleton der "Vossischen Zeitung".

In dem Buch "Chronik eines Untergangs" sind ausschließlich Artikel von Leopold Schwarzschild veröffentlicht, der als Wirtschaftsjournalist - er hatte Ökonomie und Geschichte studiert - die politischen Entwicklungen nicht nur beobachtete und analysierte, sondern auch kommentierte. Die Auswahl beginnt im August 1924, die Weimarer Republik war gerade fünf Jahre alt. Eine Währungsreform hatte die Inflation beendet. Es herrschte vorsichtiger Optimismus. Die Verhandlungen um den Dawes Plan, der die Reparationszahlungen nach dem ersten Weltkrieg regelte, gingen zu Ende. Im Oktober 1925 wurde der Vertrag von Locarno unterschrieben, der als wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden galt. Über beide Ereignisse schrieb Leopold Schwarzschild in einer Sprache, die auch den ökonomischen Laien die komplizierten wirtschaftlichen und finanzpolitischen Mechanismen verstehen lassen.

Der Optimismus verflog, die Weimarer Republik blieb gefährdet. Die radikalen Parteien, vor allem die Nationalsozialisten, wurden stärker. Im Sommer 1930 schaffte Heinrich Brüning die parlamentarische Demokratie ab und führte die Präsidialrepublik ein. Schwarzschild beschreibt den Untergang der Weimarer Republik nicht als eine aus wirtschaftlichen Gründen unvermeidbare Entwicklung, sondern als eine politische Tragödie, die durch ein entschlossenes und geeintes Vorgehen der Westmächte und möglicherweise auch der Sozialdemokraten hätte vermieden werden können. Seine Artikel über die Wirtschaftspolitik der Weimarer Zeit widmete er gern dem Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht, den er zutiefst verachtete.

Leopold Schwarzschild formuliert klar, deutlich und - immer wieder - sehr ironisch. Zum Beispiel, wie er den 30. Januar 1933 beschrieb, jenen Tag, an dem Reichspräsident Paul Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte:

"Am Nachmittag erfuhr das Volk, dass es sich seit dem Vormittag in einer siegreichen Revolution befinde. Für den Abend wurde den braunen und grauen Krypto-Armeen befohlen, der Öffentlichkeit mittels Fackelzügen die von höchsten Stellen anberaumte Revolution festlich zu verdeutlichen. Während Revolutionen sonst anschwellen, explodieren und unter der Gewalt der Explosion zum Regierungswechsel führen, kam hier zuerst der Regierungswechsel, dann wurde, unter der Regie der neuen Befehlshaber, die nie gewesene Revolution sozusagen nachgeliefert."

Als Schwarzschild dies schrieb, hatte er Berlin längst verlassen. Schon 1932 war er mit der Redaktion seiner Zeitschrift nach München umgezogen. Am 9. Mai 1933 erschien die letzte Nummer des "Tagebuchs", unmittelbar danach schloss die SS die Redaktion. Schwarzschild floh nach Wien und konnte mit der finanziellen Unterstützung eines Rechtsanwalts in Paris die Redaktion des "Neuen Tagebuchs" gründen.

Das entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zur viel gelesenen und anerkannten Exilzeitschrift, die nicht nur Emigranten, sondern auch Regierungspolitikern in Frankreich und England als Informationsquelle diente. Winston Churchill, der in jenen Jahren kein politisches Amt innehatte, aber einer der größten Warner vor Hitler und Gegner der Appeasement-Politik Chamberlains war, schrieb regelmäßig für das "Neue Tagebuch".

Die "Chronik eines Untergangs" berichtet nur wenig über persönliche Schicksale, so gut wie nichts über den Alltag der Verfolgten. Leopold Schwarzschild, der keiner Partei angehörte, der Wirtschaftsjournalist war, schrieb aus dem Pariser Exil. Anders als zum Beispiel Victor Klemperer in seinen Tagebüchern, der die grauenvollen Zustände im Nationalsozialismus in unmittelbarer Umgebung und am eigenen Leib erlebte.

Die Auswahl der Texte Schwarzschilds besorgte der 35-jährige Andreas Wesemann. Er lebt als Investment Banker in London und ist ein Urenkel Stefan Grossmanns, der das "Tagebuch" gründete. Wesemann hat die Texte in eine Klammer gesetzt; eine ausführliche Einleitung versetzt den Leser unmittelbar in die Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre, historische Erläuterungen am Ende des Buches erklären, was sich nicht unmittelbar aus den Texten erschließt.

Schon früh warnte Schwarzschild vor der Kriegsgefahr. Im Spätherbst 1934 stellte er fest, dass die deutsche Wirtschaft ausschließlich ein Instrument zur Kriegsvorbereitung ist. Im März 1939 glaubte niemand mehr an den Frieden. Schwarzschild polemisierte unter der Überschrift "Die Ideen des März":

"Sechs Jahre lang hat man sich bemüht, es begreiflich zu machen. Sechs Jahre lang verstanden die meisten es nicht, oder sie wehrten sich gegen das aufdämmernde Verstehen. ‚Hütet Euch beizeiten’, sagte man ‚Er sinnt und trachtet Tag und Nacht nichts anderes, als Euch allesamt, ohne Ausnahme zu zertrampeln und zu knechten."

1940 emigrierte Leopold Schwarzschild nach New York, wo er als Schriftsteller und Journalist arbeitete. 1950 starb er während einer Urlaubsreise in Italien.


Schwarzschild, Leopold, herausgegeben von Andreas Wesemann: Chronik eines Untergangs. Deutschland 1924 - 1939
Czernin Verlag, Wien 2005,
511 Seiten, 34,50 Euro.