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Kulturhauptstadt 2019
Wie viel Tourismus verträgt Matera?

Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten die Menschen in Matera in den "Sassi" - alte Höhlen ohne Wasser und Strom. Sie sind heute renoviert und gehören zum UNESCO-Welterbe. Dieses Jahr ist der einstige Schandfleck Italiens Kulturhauptstadt Europas. Auch deshalb ringt man dort um ein Tourismus-Konzept.

Von Jan-Christoph Kitzler | 02.01.2019
    Blick auf das Viertel Sassi von Matera
    Das älteste Viertel der Europäischen Kulturhauptstadt 2019 Matera ist Sassi mit den Höhlenwohnungen. (imago/blickwinkel)
    Das Jahr, in dem Matera Europäische Kulturhauptstadt ist, wird offiziell am 19. Januar eingeläutet, mit einem großen Fest. Deshalb wird jetzt auch immer noch gearbeitet in der Cava del Sole. Dort, in einem alten Tuffsteinbruch, entsteht ein Veranstaltungszentrum, der einzige große Bau, den sich Matera für dieses Jahr leistet. Jeden Tag sollen Besucher fünf verschiedene Veranstaltungen erleben können. Ausstellungen, kleine und große Events. Viele Bürger Materas machen mit, zum Beispiel, wenn Dantes Göttliche Komödie auf die Bühne gebracht wird.
    Matera, das war nach dem Zweiten Weltkrieg die Schande Italiens. Carlo Levi beschrieb in "Christus kam nur bis Eboli", wie die Menschen hier in Höhlen lebten, ohne Strom, ohne fließend Wasser. Die Sassi, das alte Matera aus Höhlen, einfachen Gebäuden und kleinen Gassen hat man dann lange fast vergessen. Inzwischen werden sie nach und nach saniert, heute sind sie der Stolz eines ganzen Landes geworden – der Beginn einer neuen Geschichte, sagt der Architekt Mattia Antonio Acito:
    "Wir können euch in erster Linie in unseren Häusern in den Sassi empfangen – indem wir sie zu Orten der Gastfreundschaft machen. Ich glaube, dass das ein gutes Beispiel ist für einen Neuanfang, eines kleinen Ortes im Süden, wo man endlich verstanden hat, dass Gäste zu empfangen bedeutet, eine neue Wirtschaft aufzubauen."
    Die "Passion Christi" machte Matera weltweit bekannt
    Und so soll Matera, im strukturschwachen Süden Italiens voller Probleme, zu einem Zeichen des Aufschwungs werden. Der Aufstieg von Matera ist letztendlich auch großes Kino. Immer wieder wurden hier große Filme gedreht – die Szenerie mit den kleinen Gassen, den gedrungenen Häusern und auch der Blick von der anderen Seite des Flusses Gravina eignen sich besonders gut für Bibelfilme. Pier Paolo Pasolini zu Beispiel drehte hier 1964 seine Version des Matthäus-Evangeliums. Alles änderte sich aber mit Mel Gibsons "Passion Christi". Rafaele Stifano muss es wissen: er arbeitet als Location Scout, sucht gute Orte für neue Filme:
    "Die Passion Christi hat das wirtschaftliche Leben der Stadt verändert. Denn er hat auf grandiose Weise den Impuls zum Tourismus gegeben, zu der Präsenz der ganzen Welt, die Tag für Tag nach Matera kommt. Passion war der Film, der die Stadt Matera, die Sassi der ganzen Welt vorgestellt hat.
    Und seitdem darf Matera auf der Route vieler Süditalien-Touristen nicht mehr fehlen. Natürlich werden im Jahr der Europäischen Kulturhauptstadt noch einmal viel mehr Besucher kommen. Und natürlich gibt es auch die Sorge, dass die Stadt mit ihren 60.000 Einwohnern, von denen nur ein paar Tausend im historischen Zentrum wohnen, überrannt wird. 800.000 Besucher in einem Jahr könnten zu viel sein für Matera, weiß auch Paolo Verri, der Generaldirektor von Matera 2019:
    "Zu viel Tourismus ist ein Problem für die Authentizität der kleineren und mittleren Städte in Italien. Man muss das managen. Man braucht keine Auflagen, man muss nachdenken. Ich glaube, als Bürger und als Touristen können wir alle verstehen, dass es schlecht ist, wenn wir zu viele sind. Schlecht für unseren Aufenthalt und schlecht auch für die Orte, die irreal, künstlich werden."
    Besucher sind Mitbewohner auf Zeit, keine Touristen
    Deshalb hofft man in Matera auf einen anderen Weg, will genau das verhindern. Dadurch, dass möglichst viele Materani mitmachen in diesem Jahr. Aber auch die Gäste, die kommen, sollen sich Zeit nehmen, Matera nicht abhaken, wie viele andere Sehenswürdigkeiten. Deshalb sprechen sie hier nicht gern von "Touristen", deshalb bekommt jeder der Besucher eine Art Ausweis, sagt Serafino Paternoster, einer der Organisatoren:
    "Wir sprechen immer von Mitbewohnern auf Zeit. Denn wir glauben, dass sich die Idee vom Tourismus verändern muss. Wir möchten, dass Bürger aus der ganzen Welt nach Matera kommen, die Stadt leben, nicht nur kurz anhalten, um zu schauen, und dass dadurch etwas Nützliches entsteht. Für sie selber und für die anderen. Das ist das Konzept."
    Dass dieses Konzept aufgeht, ist Matera zu wünschen. Diese Perle Süditaliens wird ein Jahr im Scheinwerferlicht stehen. Und hoffentlich ist der Aufschwung Materas nicht nur ein Beispiel für Süditalien, sondern auch dafür, dass ein Ort seinen Charakter behalten und sich trotzdem vielen Besuchern öffnen kann.